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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 33.1916

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I. Theil: Abhandlungen
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Planiscig, Leo: Geschichte der venezianischen Skulptur im XIV. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.6168#0131
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Geschichte der venezianischen Skulptur im XIV. Jahrhundert.

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gestreckten Figuren der Tugenden, die, als Karyatiden verwendet, das Grabmal des Pietro Martire
tragen, bezeugen aber, daß der Stil des Giovanni di Balduccio «im engeren Sinn individuell» ist.
Die leuchtertragenden Engel unter den sphärischen Nischen beider paduanischen Grabdenk-
mäler sowie die Madonnen der Mittelnischen weisen nun merkwürdige Berührungspunkte mit
diesen Tugendgestalten auf, obwohl beide Gruppen sichtlich voneinander getrennt sind und die
paduanischen Skulpturen auch zeitlich auf einer höheren Stufe der Entwicklung stehen. Nur einen
Grundzug haben sie gemeinsam: was sie trennt, sind beiderseits individuelle Faktoren. Die
Gewandbehandlung der erwähnten Skulpturen von Padua ist von jener der oberen Nischenheiligen
verschieden. Nicht parallele, scharfe, oft schräg um den Körper laufende Faltenzüge sondern
reiche, in sich gerundete Linien begleiten den Wurf der Gewänder und wo sie den Boden er-
reichen, biegen sie sich noch mehrmals um, manchmal sogar spielerisch, ganz wie an den Tugenden
des Giovanni di Balduccio und, diesen ähnlich, verdecken sie auch hier die Füße der Figuren.

Die Engel am Jacopo-Sarkophag stehen im Typus den bekannten Verkündigungsfiguren nahe;
jene am Ubertino-Sarkophag sind in der Entwicklung fortgeschrittener. Man betrachte den Engel
unter der rechten Nische : abgesehen von der im gewissen Sinne schematischen Behand-
lung des Kopfes mit dem leeren Lächeln — einem Charakterzug, der übrigens auch den an-
deren Engeln und den Madonnen beider Sarkophage eigen ist, ■— tritt hier in der Wiedergabe der
von den Gewändern umhüllten Körperstruktur etwas Neues und Zukunftvolles auf. Während die
Tugendfiguren des Giovanni di Balduccio, nach toskanischem Muster, zylinderartige Hüllen ohne
Gerippe sind, läßt unser Engel unter den dünnen Gewändern deutlich die Artikulierung des Beines
erkennen. Es steckt etwas Quattrocenteskes in diesem rechten Bein, das sich in seiner plastischen
Form zu zeigen trachtet und der ganzen Figur inneres Leben verleiht, ein Fortschritt aber auch
in der Gesamtentwicklung der italienischen Trecentoskulptur. Wie weit zurück stehen diesem ein-
zelnen Motiv gegenüber die Figuren des Giovanni di Balduccio an der Area in Sant' Eustorgio
oder jene seiner lombardischen Schüler am Grabmal des hl. Augustinus in San Pietro in Ciel d'oro
zu Pavia! Und wie weit stehen hinter diesen Errungenschaften venezianischer Bildhauer, trotz
aller Entwicklung, die Skulpturen der Florentiner Andrea und Nino zurück! Der gotische Schwung
vieler unter toskanischem Einfluß entstandenen Figuren der ersten Trecentohälfte ist nun verschwun-
den. Wenn auch noch die pisanische Grundlage ihre Existenz bewahrt, so ist ein statuarischer In-
halt dazu gekommen, der diesen Figuren einen ganz neuen Stempel aufprägt: man kann ihn den
individuellen Grundzug der Kunst Andreolos heißen, den man auch an den betenden En-
geln zwischen Sargkasten und Paradebett wiederfindet. Die Köpfe dieser Engel unterscheiden sich
—; besonders am Ubertino-Sarkophag — in auffälliger Weise von den zumeist stereotyp gestalteten
der Figuren unter den sphärischen Nischen. Ernste Gesichter ohne das übliche Lächeln, nichts von
der Lieblichkeit ninesker Madonnen, eher eine Verwandtschaft mit den Skulpturen an der Loggia
deiLanzi zu Florenz (vgl. den Kopf der Justitia), deren Ausschmückung aber erst in die acht-
ziger Jahre des Trecento fällt. Wir hätten somit auf venezianischem Boden einen Vorsprung in der
Entwicklung vor uns: die Umwertung des toskanischen Einflusses hätte eine Skulptur hervorgerufen,
die sich nicht nur selbständig, sondern auch gebend zu gestalten vermochte.

Auf den Paradebetten liegen die Totengestalten der beiden Carrara. Die Behandlung dieser
Figuren kann kurzweg als naturalistisch bezeichnet werden. Sie sind in der Entwicklung bereits
weit entfernt von dem B. Simeone des Marcus Romanus oder von dem B. Odorico des Filippo de
Sanctis und von allen jenen auf Sarkophagen liegenden Statuen, die, fern von jedweder Individuali-
sierung, ein gemeinsamer Grundzug kennzeichnete. In den Köpfen des Jacopo und des Ubertino
liegt persönliche Charakteristik. Hier trachtet der Künstler der Natur nahe zu kommen, und
wenn er auch im traditionellen Schema der Zeit befangen ist, so sucht er wenigstens die markan-
testen unter den individuellen Zügen der Verstorbenen wiederzugeben. Der stark vorspringende
Unterkiefer ist ein geschichtlich überliefertes Kennzeichen der Carrara. Die aufgeschwollenen sinn-
lichen Lippen verleihen dem Tyrannen Ubertino jenen grausamen Ausdruck, von dem Geschichte
 
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