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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 33.1916

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I. Theil: Abhandlungen
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Planiscig, Leo: Geschichte der venezianischen Skulptur im XIV. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.6168#0146
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i38

Leo Planiscig.

das Leintuch, worauf der Tote ruht, sichtbar. Dieser wendet das Haupt dem Beschauer zu. Unter
den Füßen hat er — als Kennzeichen des Gelehrten — drei große Bücher. Venturi1 hält es für
wahrscheinlich, daß dieses Grabdenkmal ein Werk des Andreolo de Sanctis sei. Was aber darüber
Bertaux2 zu erzählen weiß, verdient besonders (nicht eben rühmlich) hervorgehoben zu werden:
seiner präzisen Angabe nach ging Andreolo de Sanctis nach Bologna (!!), wo er das Grabmal des
Rechtsgelehrten Raniero ausführte! Nicht alle Professoren liegen in Bologna begraben!

Der Zuschreibung an Andreolo liegt die Tendenz zugrunde, Individua-
litäten an Stelle von Stilrichtungen zu setzen. Aus all dem bis jetzt Er-
wogenen geht aber deutlich hervor, daß hier eine Verbindung zweier
Kunstrichtungen vorliegt, deren Basis zwar gemeinsam ist, deren Ent-
wicklungswege sich aber getrennt haben, um nun erneuert wiederum zusam-
menzutreffen. Die Architektur, das dekorative Element, die Behandlung der
Figur des Toten gehören dem Kreise der Carrara-Gräber an; die Struktur
der Thronnische hat ihren Vorläufer in der Area des Andrea Dandolo;
die Madonna mit dem Kinde und die zwei Heiligenfiguren an den Ecken
stehen im direkten Zusammenhang mit jenen des Dandolo-Sarkophags, be-
ziehungsweise mit jenen des Portaltympanons von S. Lorenzo zu Vicenza.3
Das Denkmal zeigt also ein sich Durcharbeiten der Errungenschaften der
vierziger Jahre und eine Verbindung mit den neuen, von der De Sanctis-
ßottega geschaffenen architektonisch-dekorativen Werten.

Die Figur der thronenden Madonna oder jene der weiblichen
Heiligen der rechten Ecknische zeigen aber gegenüber dem am Tym-
panon von Vicenza vertretenen Madonnentypus merkliche Veränderungen.
Die antikisch-junonische Gestalt ist zum Teile verschwunden, an ihre Stelle
ist (zwar nur angedeutet) etwas Gotisch-Graziles, Französierendes getreten:
die dem Oval sich nähernden Gesichter erscheinen nicht mehr gewaltig
massiv, sie sind lieblicher geworden.

Eine der Eckheiligen sehr ähnliche Madonnenfigur fand ich im Wiener
Kunsthandel4 (Fig. 94); sie dürfte einer Verkündigungsszene angehört und

gleichfalls an einer Sarkophagecke gestanden haben. Den gleichen Madonnen-
Verkündigungsmadonna. . . . . . , ,

typus — mit einem deutlichen französischen Einschlag — werden wir aus-
Galerie Dr. o. Fröhüch. gebildet an einer Gruppe von Skulpturen finden, die vorwiegend den sechzi-
ger und siebziger Jahren des Jahrhunderts angehören.
Die neu entstandene Richtung in der venezianischen Skulptur — dieses Kompromiß zweier
Strömungen — scheint eine größere Vitalität als der verhältnismäßig enge Kreis der ursprünglichen
De Sanctis-Bottega gehabt zu haben. Sie besaß einen mehr populären, geläufigen, den Entwicklungs-
fähigkeiten anderer Werkstätten angemesseneren Charakter, der sich auch außerhalb des engeren
venezianischen Bodens — in Verona, wo die Campionesen die Führung der Skulptur in Händen
hatten, — entfalten konnte.

Das Grabdenkmal des Giovanni dellaScala im Vor ho fe von S. M. della Scala zu Verona
(1359) (Fig. 95) steht — was Formensprache und auch Material anbelangt — den Arche Scaligere
vollkommen ferne. Venturi5 schreibt es einmal der De Sanctis-Bottega zu, nach ein paar Seiten
läßt er aber Andreolo und die «Seinigen» nach Verona wandern, um den Sarkophag des Scaligero
auszuführen. Als ob dies irgendwie dokumentarisch bewiesen wäre! Meyer6 hält dieses Grabmal

1 Venturi a. a. O. IV, p. 766.

■ liertaux a. a. O., p. 641: «Andreolo de Sanctis alla ä Bologne (_sic') et y sculpta le tombeau de Raniero degli
Arsendi.»

3 Vgl. den hl. Franziskus mit der gleichen Figur am Vicentiner Portaltympanon.

4 Galerie Dr. Otto Fröhlich, Wien.

5 Venturi a. a. O. IV, p. 766 u. 772. 6 Meyer, Lombardische Denkmäler, a. a. 0., S. 86.
 
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