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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0089
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belebte Statue wurden nun zum komplexen Symbol, es brauchte nicht mehr die ganze
Pygmalion-Geschichte memoriert zu werden, sondern einzelne Zeichen daraus standen für
das Ganze. Neben anderen bediente sich auch der deutsche Archäologe und Kunstgelehrte
Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) dieses Symbols.210 Innerhalb seiner platonischen
Konzeption eines Schönheitsideals unternahm er den Versuch, in der Beschreibung den Mar-
mor zu beleben. Durch genaue, »kennerhafte« Schilderung aller Details wollte er der ästheti-
schen Erscheinung der Kunst auf den Grund gehen. Winckelmanns Art der Beobachtung stellt
sich als eine Methode der Einfühlung und Sinnprojektion in den »lebendigen Organismus«
des Kunstwerks dar.211 Jedes Artefakt solle von innen her belebt gesehen und diese sinnliche
Erfahrung zum Kriterium des Wesens des Kunstwerks gemacht werden. Sein Weg führte nicht
über den Naturalismus oder die Illusionsästhetik, sondern über das Erfassen der Seele der
Statuen. Durch ekstatisches Schauen sollte die Materie vom Geist überwunden, das Sinnliche
auf das Geistige reduziert werden.212 So konnte er von einer Lebendigkeit der Kunst spre-
chen, die organischen Wesen analog war, und »tote« Skulpturen mit Begriffen wie »schwellende
Hügel von Muskeln« und »Fleischigkeit«2^ charakterisieren. Die Lebendigkeit der Materie
wurde durch die ihr innewohnende Idee und durch die Vorstellungskraft des Kunstbetrachters
erreicht, wie er anhand des Apollo von Belvedere und des Torso von Belvedere exemplifiziert:

»Eine mit Bestürtzung vermischte Verwunderung wird dich <einem?> außer dich setzen wie dort
den Pygmalion unter deßen Händen sein Bild Leben und Bewegung bekam: ja das Körperliche
wird dir geistig <erscheinen> werden«214 und »Bey dem ersten Anblick dieses Stückes wird man
nichts anders gewahr als einen fast ungeformten Klumpen Stein, aber so bald das Auge die Ruhe
angenommen, und sich fixiret auf dieses Stück, so verliehret das Gedächtniß den ersten Anblick des
Steins und scheinet er weichliche zarte Materie zu <sehen> werden.«215

Die Unterscheidung von Lebendem und Totem löst sich auf. Durch die subjektive Einbildungs-
kraft des Betrachters werden tote Werke lebendig.216 Noch konkreter - verifizierbar nicht nur
über das Auge, sondern auch über den Tastsinn - äußerte sich der Theologe und Philosoph
Johann Gottfried von Herder (1744-1803). In seinem Aufsatz »Plastik« mit dem bezeichnen-
den Untertitel »Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem

210 Zahlreiche »Dichter und Denker« unterschiedlichster Couleur wie Johann Georg Hamann, Hein-
rich Heine, August Wilhelm Schlegel, Georg Büchner, Friedrich Nietzsche, Friedrich Schiller oder
Johann Gottfried Herder bedienten sich dieses Symbols.

211 Vgl. Schneider 1996. S.33.

212 Schneider gibt an, daß der entscheidende Wendepunkt mit Winckelmanns Beschreibung der Belve-
dere-Statuen gegeben sei, vgl. Schneider 1994. S.102/103. Vgl. Dinter 1979, S.108-109. Vgl. Fink
1983. S.99. Vgl. Kultermann 1987. S.96-98. Vgl. Pochat 1986. S.403.

213 Siehe Winckelmanns Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. (1759). In: Winckelmann
1968. S.172. Und Winckelmanns Entwürfe zur Beschreibung des Torso im Belvedere im Florenti-
ner Manuskript. (1871). In: Winckelmann 1968, S.282.

214 Siehe Winckelmann: Entwürfe zur Beschreibung des Apollo im Belvedere. Fassungen im Pariser
Manuskript. 1806 Erstdruck. Zweite Fassung. In: Winckelmann 1968. S.276. Winckelmann er-
wähnt Pygmalion um die Illusion des Bildhauers zu verdeutlichen, der die Statue in seiner Liebe
bereits vorher belebt sieht. Als Homosexueller überträgt er das Pygmalion-Beispiel auch auf männ-
liche Statuen, die erotische Komponente des Pygmalion-Mythos ist nicht zu vernachlässigen, vgl.
auch Schneider 1994. S.182-192.

215 Siehe Winckelmann: Entwürfe zur Beschreibung des Torso im Belvedere im Florentiner Manu-
skript (1871). In: Winckelmann 1968. S. 281.

216 Vgl. zu diesem Thema auch den Brief Füsslis an Vögelin 1760, der als Vorspann der Übersetzung
von Webbs »Untersuchung des Schönen in der Malerey« abgedruckt ist. In: Vögelin 1766.

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