Traume« (1768-70, 1778 veröffentlicht)217 wies er unter direktem Bezug auf Diderots »Lettre
Sur les aveugles ä l'usage de ceux qui voient« (1749) dem haptischen Gefühl eine grundle-
gende Bedeutung in der Wahrnehmung sinnlicher Realität zu und sprach von der »Kälte des
Gesichts« und der »Wärme des Gefühls«.218 Die Plastik ist bei ihm nicht Abbild, sondern
Sinnbild des Menschen. Die Beziehung von Körper und Gefühl entwickelte Herder in engem
Bezug zur Bildhauerei, die zum Leben erweckt wird:
»Eine Statue muß leben: ihr Fleisch muß sich beleben: ihr Gesicht und Mine sprechen. Wir müssen
sie anzutasten glauben und fühlen, daß sie sich unter unsern Händen erwärmt. Wir müssen sie vor
uns stehen sehen, und fühlen, daß sie zu uns spricht. Siehe da zwei Hauptstücke der Sculptur Fleisch
und Geist!«219
Diese Überlegung sollte noch lange Gültigkeit haben, wie August Wilhelm von Schlegel (1767-
1845) in seinen Vorlesungen über Kunst in Berlin in den Jahren 1801 und 1802 resümiert:
»Denn es ist ihr [der plastischen Kunst] aufgegeben, der todten Masse Seele einzuhauchen, in dem
starren harten Stein die unendlichen Gradationen der Weichheit und Festigkeit und gleichsam die
letzten verschwindenden Wellen der organischen Bewegung auszudrücken. Es ist erstaunenswürdig
damit gelungen, der Marmor verwandelt sich nicht bloß dem Auge, sondern auch der betastenden
Hand in weiches Fleisch, und die Geschichte vom Pygmalion ist keine bloße Fabel, als Anspielung
auf die Wunder der Sculptur hat sie Wahrheit: die schöne Natur erwärmt und belebt sich immer von
neuem vor den Augen und unter den Händen des entzückten Betrachters.«220
Mit diesen Gedanken schließt sich der Kreis zur belebten Statue der französischen Sensuali-
sten: Die entwickelte Beziehung zwischen Objekt und Subjekt ist grundlegend. Ohne »Geist«,
und damit implizit auch ohne Gefühl, kann der Betrachter die Statue nicht verlebendigen. In
diesem Sinne ist es nun der individuelle, rezipierende Kunstliebhaber, der die Statue mit sei-
ner fühlenden Einbildungskraft verlebendigt, weder Götter, noch Pygmalion, noch der ge-
niale Künstler und auch nicht der studierte Akademiker sind hierfür notwendig.221 Pygmalion
wird insofern zur Identifikationsfigur für den Betrachter, als er sich in seinem subjektiven
Empfinden weitgehend mit dem Künstler, dem Urheber des Werkes, identifizieren kann.
Man mag nun einwenden, daß schon seit der Antike die »Statuenliebe« und der Gedanke
der Verlebendigung des Marmors durch Berührung und erotische Erfahrbarkeit auch vor der
Mitte des 18. Jahrhunderts nicht fremd waren:222
217 Rupprecht bezeichnet diese Schrift als ein Produkt der Geniezeit mit ihrer unbedingten Forderung
nach Wahrheit der Kunst und mit ihrer Verachtung von Theorie und Akademismus, vgl. Rupprecht
1963. S.204. Das Werk »Plastik« entstand vor Herders Italienreise im Jahre 1788/89, zu Herders
Erfahrungen auf seiner Italienreise, seinem phänomenologischen, dezent erotisierenden Umgang
mit den Werken der Antike sowie des eingesetzten Tastsinns als anthropologische Basis der Bild-
hauerkunst, vgl. Sprengel 1991. Vgl. auch Mülder-Bach 1998, S.49-102.
218 Vgl. Dieckmann 1969. S.51. Vgl. Niewöhner 1991. S.5. Zum Ideal der Plastik, vgl. den Artikel von
Rupprecht 1963; Zur Weiterentwicklung der Statue als moralische Instanz, vgl. C.Beutler 1988.
S.104-107.
219 Siehe Herder: Von der Bildhauerkunst fürs Gefühl (Gedanken aus dem Garten zu Versailles) (1769).
In: Suphan VIII. 1892. S.88. Vgl.-Bätschmann 1977. In: Kemp 1985. S.188. Vgl. Blühm 1988.
S.114/115. Vgl. Langen 1968. S.206.
220 Siehe Schlegel: Uebersicht und Eintheilung der schönen Künste (1801). In: Die Kunstlehre (1801).
In: Behler 1989. S.283.
221 Neben diesen Auffassungen existierte der Gegenpol zu Winckelmann und Herder in Wilhelm Heinse,
der unter »antiklassizistischer Entidealisierung« die wirklich sinnliche Lust propagiert, vgl. v.a.
Pfotenhauer 1991, S.86-88.
222 Vgl. dazu den Aufsatz von Hinz 1989.
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Sur les aveugles ä l'usage de ceux qui voient« (1749) dem haptischen Gefühl eine grundle-
gende Bedeutung in der Wahrnehmung sinnlicher Realität zu und sprach von der »Kälte des
Gesichts« und der »Wärme des Gefühls«.218 Die Plastik ist bei ihm nicht Abbild, sondern
Sinnbild des Menschen. Die Beziehung von Körper und Gefühl entwickelte Herder in engem
Bezug zur Bildhauerei, die zum Leben erweckt wird:
»Eine Statue muß leben: ihr Fleisch muß sich beleben: ihr Gesicht und Mine sprechen. Wir müssen
sie anzutasten glauben und fühlen, daß sie sich unter unsern Händen erwärmt. Wir müssen sie vor
uns stehen sehen, und fühlen, daß sie zu uns spricht. Siehe da zwei Hauptstücke der Sculptur Fleisch
und Geist!«219
Diese Überlegung sollte noch lange Gültigkeit haben, wie August Wilhelm von Schlegel (1767-
1845) in seinen Vorlesungen über Kunst in Berlin in den Jahren 1801 und 1802 resümiert:
»Denn es ist ihr [der plastischen Kunst] aufgegeben, der todten Masse Seele einzuhauchen, in dem
starren harten Stein die unendlichen Gradationen der Weichheit und Festigkeit und gleichsam die
letzten verschwindenden Wellen der organischen Bewegung auszudrücken. Es ist erstaunenswürdig
damit gelungen, der Marmor verwandelt sich nicht bloß dem Auge, sondern auch der betastenden
Hand in weiches Fleisch, und die Geschichte vom Pygmalion ist keine bloße Fabel, als Anspielung
auf die Wunder der Sculptur hat sie Wahrheit: die schöne Natur erwärmt und belebt sich immer von
neuem vor den Augen und unter den Händen des entzückten Betrachters.«220
Mit diesen Gedanken schließt sich der Kreis zur belebten Statue der französischen Sensuali-
sten: Die entwickelte Beziehung zwischen Objekt und Subjekt ist grundlegend. Ohne »Geist«,
und damit implizit auch ohne Gefühl, kann der Betrachter die Statue nicht verlebendigen. In
diesem Sinne ist es nun der individuelle, rezipierende Kunstliebhaber, der die Statue mit sei-
ner fühlenden Einbildungskraft verlebendigt, weder Götter, noch Pygmalion, noch der ge-
niale Künstler und auch nicht der studierte Akademiker sind hierfür notwendig.221 Pygmalion
wird insofern zur Identifikationsfigur für den Betrachter, als er sich in seinem subjektiven
Empfinden weitgehend mit dem Künstler, dem Urheber des Werkes, identifizieren kann.
Man mag nun einwenden, daß schon seit der Antike die »Statuenliebe« und der Gedanke
der Verlebendigung des Marmors durch Berührung und erotische Erfahrbarkeit auch vor der
Mitte des 18. Jahrhunderts nicht fremd waren:222
217 Rupprecht bezeichnet diese Schrift als ein Produkt der Geniezeit mit ihrer unbedingten Forderung
nach Wahrheit der Kunst und mit ihrer Verachtung von Theorie und Akademismus, vgl. Rupprecht
1963. S.204. Das Werk »Plastik« entstand vor Herders Italienreise im Jahre 1788/89, zu Herders
Erfahrungen auf seiner Italienreise, seinem phänomenologischen, dezent erotisierenden Umgang
mit den Werken der Antike sowie des eingesetzten Tastsinns als anthropologische Basis der Bild-
hauerkunst, vgl. Sprengel 1991. Vgl. auch Mülder-Bach 1998, S.49-102.
218 Vgl. Dieckmann 1969. S.51. Vgl. Niewöhner 1991. S.5. Zum Ideal der Plastik, vgl. den Artikel von
Rupprecht 1963; Zur Weiterentwicklung der Statue als moralische Instanz, vgl. C.Beutler 1988.
S.104-107.
219 Siehe Herder: Von der Bildhauerkunst fürs Gefühl (Gedanken aus dem Garten zu Versailles) (1769).
In: Suphan VIII. 1892. S.88. Vgl.-Bätschmann 1977. In: Kemp 1985. S.188. Vgl. Blühm 1988.
S.114/115. Vgl. Langen 1968. S.206.
220 Siehe Schlegel: Uebersicht und Eintheilung der schönen Künste (1801). In: Die Kunstlehre (1801).
In: Behler 1989. S.283.
221 Neben diesen Auffassungen existierte der Gegenpol zu Winckelmann und Herder in Wilhelm Heinse,
der unter »antiklassizistischer Entidealisierung« die wirklich sinnliche Lust propagiert, vgl. v.a.
Pfotenhauer 1991, S.86-88.
222 Vgl. dazu den Aufsatz von Hinz 1989.
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