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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0043
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3. Die lebenden Bilder des 18. und frühen
19. Jahrhunderts - Eine Übersicht

Die ersten lebenden Bilder, die Kunstwerke nachstellten und in den sechziger Jahren des
18. Jahrhunderts auftauchten, standen ebenfalls - wie in den Jahrhunderten zuvor - im Kon-
text von Theaterstücken. Kurze Zeit später traten sie erstmals als eigenständige, von einem
Handlungsablauf unabhängige Kunstform auf. Zweifelsohne muß ihr Erscheinen im Zu-
sammenhang mit grundsätzlichen Überlegungen zur Beziehung zwischen Bild, Künstler und
Betrachter und der Kunstrezeption in den denkerischen Ansätzen jener Zeit gesehen werden.
Die Tableaux vivants des 18. Jahrhunderts lassen sich aus kunst-, aber auch aus theatertheoreti-
scher Sicht erschließen. Zu Beginn sollten sie pädagogisch-moralistischen Bildungsansprü-
chen genügen, indem sie Information übermittelten und die Geschmacksbildung förderten.
Entweder entsprangen sie direkten erzieherischen Absichten im Sinne einer Lehrstunde oder
wurden zur Veranschaulichung bestimmter Thesen zielgerichtet auf dem Theater eingesetzt.
Es dauerte nicht lange, bis sich diese Einstellung wandelte: Der vergnügliche, unterhaltende
Part der lebenden Bilder, der spielerische Umgang mit kulturellen Werten rückte in den Vorder-
grund.

Dieser Werdegang entspricht im Kleinen der geistigen Entwicklung jener Zeit in Europa:
Während die Frühaufklärung1 am Lehrhaft-Moralischen mit seinen Grundpfeilern von Ver-
stand und Glauben festhielt, verlieh die darauffolgende Gegenbewegung, angeführt von den
sogenannten Sensualisten, der Phantasie, der Idee und vor allem dem Gefühl - in Verbindung
mit einem neuen Subjektbegriff vom Menschen - mehr Gewicht. Daraus konnte sich ein
neues- Bewußtsein für die konstruktive Rolle des Rezipienten im ästhetischen Prozeß ent-
wickeln.2 Der sinnlichen Ebene mit all ihren Wahrnehmungsmöglichkeiten wurde nun mehr
Platz eingeräumt, wie auch die Beschäftigung mit Kunst neue Reflexionsebenen erhielt.
Thematisiert wurde das Verhältnis zwischen materieller Wirklichkeit und subjektiver Wirk-
lichkeitsbewältigung, so daß die Forderung des Verstehens in statischen Begriffssystemen
allein durch den Gesichtssinn und Verstand überwunden werden konnte. Man forderte - auch
beim Rezipienten - die uneingeschränkte Entfaltung des schöpferisch-genialen Individuums
aus ursprünglicher Gefühlskraft und entdeckte den Anteil des Lesers, Betrachters oder Zu-
schauers an der Produktion und der Tradierung von Kunstwerken. Daß man sich gleichzeitig
auch verstärkt der Übersetzung von Kunst ins Leben, von einem schon vorhandenen Kunst-
werk in den realen Raum der lebenden Bilder widmete, wird im folgenden Überblick zu zei-
gen sein.

1 Der Begriff » Aufklärung« ist vielseitig und mehrdeutig. Zu seiner Auslegung vgl. Blankertz 1982.
S.21-30. .

2 Vgl. auch Kemp 1985.

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