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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0031
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Perfektion der illusionistischen Wirkung. Vielleicht das beste Beispiel sind die teils gemalten,
teils plastisch ausgeführten Szenen des Sacro Monte in Varallo von Gaudenzio Ferrari (1512-
28), die Pochat als »nichts anderes als die bildkünstlerische Umsetzung der großen Passions-
spiele mit ihren luoghi deputati — nicht die bescheidene Inszenierungskunst toskanischer sacre
rappresentazioni, sondern eher die aufwendigen ,lebenden Bilder' der Mysterienspiele der
Alpenregion, Frankreichs und Flanderns« bezeichnet (Abb.3).31

Diese Entwicklungen in der Liturgie wie in der bildenden Kunst waren zweifelsohne
förderlich für die lebenden Bilder, die sich gerade im 15. Jahrhundert ausbilden werden. Sie
entsprangen dem Wunsch, einerseits Szenen der theatralen Kunst zu akzentuieren und ande-
rerseits die visuelle Kunst mit Leben zu erfüllen.

2.2. Mobile lebende Bilder auf Prozessionswagen

Vor allem bei Festumzügen - in Italien wie nördlich der Alpen - entwickelte sich das Modell,
lebende Bilder auf fahrbaren Bühnenwagen oder Traggerüsten, sogenannten »Carri« oder
»Edifizii« innerhalb einer Prozession mitzuführen. Die kirchlichen Prozessionen, beispiels-
weise zu Ostern oder Fronleichnam,32 ermöglichten einen weiten Handlungsspielraum in der
szenischen Ausstattung.33 Thematisiert wurde zunächst die ganze christliche Weltgeschichte
vom Sturz Lucifers bis zum Jüngsten Gericht, später auch - parallel zur allgemein gewach-
senen Schaulust des Volkes wie zur ansteigenden Bedeutung humanistischen Gedankenguts -
heidnisch-profane Motive.34 Die einzelnen Szenen wurden durch Figuren aus Holz und/oder
unbewegte menschliche Personen dargestellt, die, sobald der Wagen anhielt, eine Art Panto-
mime aufführten oder sangen und rezitierten.35 Für ihre Einrichtung waren meist bildende
Künstler verantwortlich,36 die Darsteller der Bilder rekrutierten sich aus verschiedenen Zünf-
ten. Obwohl auch sehr bedeutende Künstler bei der Gestaltung mitwirkten, wurde das eph-

31 Siehe Pochat 1990. S.151.

32 1264 wurde das Fronleichnamsfest durch Papst Urban IV. in der Bulle Trans iturus de hoc mundo
angeordnet und nach geringer Beachtung 1317 durch' Clemens V. in den sogenannten Clementinen
wiederholt, vgl. Mitterwieser 1930. S.9. und Creizenach 1893. S.170. Über die erste Verbreitung
des Fronleichnamsfestes, vgl. Browe 1933. S.94. Vgl. auch Häußling 1986 und 1988, der Ursprün-
ge und Prägungen des Fronleichnamsfestes erklärt und eine ausführliche Bibliographie zu dem
Thema bereitstellt.

33 Kombinationen von Kirchenraum- und Prozessionsspielen waren nicht selten. Das Mailänder Dreikö-
1 nigsspiel von 1336 wäre ein solches Beispiel, in dem allerdings die sogenannten lebenden Bilder in

ständiger Bewegung waren. Pochat spricht unter Bezugnahme auf Garrone 1935 von »grande quadri
animati« bei den »ludi« in Padua und Treviso sowie bei der »Auferstehung« und »Himmelfahrt« in
Vicenza 1379, vgl. Pochat 1990. S.77. Zu den Osterspielen, vgl. Fischer-Lichte I. 1990. S.63.

34 Vgl. Ancona 18912.1. S.222-225. Vgl. Kindermann 1980. S.203. Vgl. von Müller. In: Schultz 1988.
S.158 mit Angabe zu den Quellensammlungen. Vgl. Wackernagel 1938. S.199. Vgl. Warnke 1985.
Vgl. Weisbach 1919. S. 15/16.

35 Vgl. Ancona 18912. I. S.222-225.

36 Ein Beispiel wäre Wien Ende des 15. Jahrhunderts, wo der Bildhauer und Holzschnitzer Wilhelm
Rollinger die Leitung des Prozessions-Passionsspiel rund um den Stephansdom innehatte. Er ver-
wandte die gleichen Motive auch für das Chorgestühl des Stephansdoms in Wien, vgl. Kindermann
I. 1957. S.252. Vgl.Unterer-Budischowsky 1980. S.5, Keil-Budischowsky 1983. S. 16-22 und Keil-
Budischowsky 1986. Zum Einsatz von Künstlern in Burgund, beispielsweise Andre Beaunneveu,
Jean Fouquet, Jacques Daret oder Hugo van der Goes, vgl. Eichberger 1988, S.45 und 53-54.

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