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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0028
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Im christlichen Abendland werden Tableaux vivants sowohl im geistlichen - beispielsweise
bei Passionsspielen - als auch im weltlichen Zusammenhang - vor allem bei den Fürstenein-
zügen - seit Beginn des 14. Jahrhunderts erwähnt. Man zeigte zunächst ausschließlich reli-
giöse Szenen. Bei ihnen handelte sich noch nicht um lebende Bilder im wirklichen Sinne, die
erst ab dem 15. Jahrhundert in einer Wechselwirkung mit der bildenden Kunst möglich wer-
den, sondern vielmehr um einzelne, theatralische Bildsequenzen innerhalb pantomimischer
Aufführungen oder um eine Aneinanderreihung sogenannter »stummer Szenen«.17 In Abgren-
zung zu Theateraufführungen wären sie vielleicht mit Creizenachs Begriff als »semidramatisch«
zu charakterisieren.18 Grundsätzlich sind zwei Präsentationsformen der lebenden Bilder zu
unterscheiden. Zum einen - vor allem in Italien - wurden sie auf Wägen bei Umzügen und
Prozessionen fortbewegt, zum anderen - vorzugsweise in den nördlichen Ländern - erhielten
sie eigene feste Bühnen, an denen der Betrachter vorbeizog. Es lassen sich also rein äußerlich
»mobile« und »stationäre« lebende Bilder unterscheiden.

2.1. Zwischen geistlichem Spiel und sakraler Plastik

Die frühesten Quellen zu Tableau-ähnlichen, stummen Szenen erwähnen durchwegs christli-
che Themen im kirchlichen Zusammenhang. Innerhalb des katholischen Zeremonialwesens
war ein theatralischer Rahmen sowohl durch das Opfer des alltäglichen Meßdienstes als auch
durch die kirchlichen Gesänge vorhanden.19 Schon vom 9. Jahrhundert an sind in der Ostkir-
che - ab dem 10. Jahrhundert auch im Westen - theatralische Kirchenraumspiele bekannt.20
Seit dem 13. Jahrhundert trat Christus selbst im Spiel handelnd auf, eine Tatsache, die zur
schnellen Weiterentwicklung diverser kirchlicher Spiele führte, die schließlich auch den Raum

17 Vgl. zu diesem Problem auch Herrmann 1915. S.370. Vgl. Eichberger 1988, S.43. Stumme Szenen
sind im Gegensatz zu Pantomimen lediglich Handlungen ohne Text, ohne eine spezielle körperli-
che Sprache zu entwickeln, vgl. Rischbieter 1983. S.1249. Leider bemühte sich bisher niemand um
eine genaue Begriffsanalyse, was mit »lebende Bilder« oder ähnlichen Begriffen wie »Vertoonige«,
»Figueren«, »Stumme Szenen« oder »Tableaux« zu damaliger Zeit gemeint war. Helas wird in
ihrer bislang unveröffentlichten Dissertation auf die unterschiedlichen italienischen Bezeichnun-
gen eingehen: »carro«, »carro trionfale«, »catafalcu«, »edifici«, »feste«, »maccina«, »misteri«,
»soleri«, »tribunali«, »pegmato«, »thalamo«, »trionfo« und »rappresentazione«, den französischen
Begriff »echafaud« und den englischen Begriff »pageants«, die alle die Gesamterscheinung mei-
nen. Es fehlt bisher eine Einigung darüber, ob mit dem »lebenden Bild« die ganze Erscheinung mit
Bühne, Rahmen und sonstigem Beiwerk (vgl. Kernodle 1944) oder nur das durch Personen gestell-
te »innere Bild« gemeint ist (daraufliegt in erster Linie mein Augenmerk).

18 Vgl. Creizenach 1893. Bd.l. S.303.

19 Vgl. Creizenach 1893. S. 47. Vgl. auch das Kapitel über Schauspielkunst und Liturgie bei Herr-
mann 1914. S. 201-204.

20 Moser datiert das älteste westliche Kirchenraumspiel auf 975, das in St,Gallen stattfand, vgl. Moser
1990. S.95. Über die vielen differenzierten Entwicklungsformen der Spiele in der Frühzeit, vgl.
Creizenach 1893, S.47-107. Vgl. auch Fischer-Lichte 1990. Bd.l. S.61, die schon für den Beginn
des 10.Jahrhunderts geistliche Spiele an Ostern ansetzt. Vgl. Unterer-Budischowsky 1980. S.2.
Uber die deutschsprachigen geistlichen Spiele des Mittelalters vgl. den ausführlichen. Katalog bei.
Bergmann. Dieser erwähnt als erste schriftliche Überlieferung eines Kirchenspiels das Benediktbeurer
Passionsspiel um 1230, auch die ersten Marienklagen sind im 13. Jahrhundert entstanden. Vgl.
Bergmann 1986. S.266 und S.496. Vgl. Treutwein 1990. S.29-32, der Themen, Aufbau und Abfol-
ge der Spiele beschreibt.

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