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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0034
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2.3. Stationäre Tableaux vivants auf Straßenbühnen

Bei den Fürsteneinzügen in den nordischen Ländern war das Prozessionselement für die
lebenden Bilder nebensächlich.45 Die dort entwickelteten Tableaux vivants waren eine eph-
emere Form der Straßendekoration, an der der Fürst wie an weiteren Sehenswürdigkeiten der
Stadt - Brunnen, Toren, wichtigen Gebäuden oder Plätzen - vorbeigeführt wurde. Bei den
aufwendig gestalteten Fürsteneinzügen waren die belebten Kunstwerke neben Tapisserien,
gemalten Geschichten oder Ausschmückungen durch Zweige und Blumen Teil einer Festde-
koration,46 also keine Weiterentwicklung des mittelalterlichen Dramas, wie Kernodle betont:
»Hence both the dramatic contentions and the scenicforms ofthe tableaux vivants were deter-
mined by the origin as street decoration; they were never drama.«,47 Die verschwenderi-
schen Aufführungen auf Straßenbühnen standen auf beeindruckende Art und Weise für den
Wohlstand und die kreative Energie in Westeuropa des 15. und 16. Jahrhunderts 48 Im franzö-
sisch-burgundischen Raum wurden seit Anfang des 14. Jahrhunderts lebende Personen zu
Bildern formiert und gehörten wenig später auch in Frankreich, den Niederlanden und Eng-
land zum festen Programm.49 Abgesehen von ein paar lokalen Variationen glichen sich in
allen nordischen Ländern die Darstellungen sowohl formal als auch inhaltlich.50 Die sich
immer prunkvoller gestaltenden Entrees demonstrierten einerseits die Ehrerbietung der Stadt
gegenüber dem einziehenden Herrscher,51 andererseits waren sie bewußte Selbstdarstellung
und damit von immenser politischer Bedeutung.52 Alle eingesetzten Bilder wiesen eine ziel-
gerichtete Analogie zu beidem auf: Fürst und Stadt. Die Kaufleute, die die Einzüge aufwendig
ausstatteten, wollten den Fürsten an die Geschichte der Stadt, besonders an ihre Rechte und
Privilegien, erinnern, ihn aber auch auf die gerade anstehenden Probleme aufmerksam ma-

45 Die Fürsteneinzüge sind nur ein Anlaß unter anderen gewesen, bei denen lebende Bilder eingesetzt
wurden. Krönungsfeierlichkeiten, Thronbesteigungen, Gebietsgewinne, Hochzeiten, Geburten von
Thronfolgern oder andere große Hoffeste waren andere, vgl. Eichberger 1988, v.a. S.41-42.

46 Vgl. Kernodle 1944, S.70-72.

47 Siehe Kernodle 1944, S.62.

48 Vgl. Kernodle 1944, S.58.

49 Bapst erwähnt die szenische Ausschmückung des Einzugs Philipps des Schönen im Jahre 1313 als
frühestes Beispiel, vgl. Bapst 1893. S.85. Van Puyvelde setzt die lebenden Bilder sogar schon für
das Jahr 1301 an, vgl. van Puyvelde. In: Jacquot II. 1960. S.288. Zu Frankreich, vgl. v.a. Mösen-
eder 1983, S.32, 104, 166-172 und 182-183. Zu den Niederlanden und England, vgl. v.a. Gascoigne
1971. S.90-95. Vgl. Kernodle 1989. S.245-254. Vgl. Kernodle 1943. S.60-61. Kernodle 1944 listet
die Einzüge in Frankreich von 1313 bis 1632, S.227-231, die Einzüge in den Niederlanden von
1301 bis 1691, S.231-234, in England von 1189 bis 1661, S.234-237 und in Deutschland, Spanien
und Portugal von 1478 bis 1619, S.237-238 mit Literaturverweisen einzeln auf. Zu den lebenden
Bildern in Burgund mit zahlreichen Hinweisen auf Quellen und Sekundärliteratur, vgl. Eichberger
1988. Zum Einzug Kaiser Karls V. in München 1530 mit lebenden Bildern, die sich thematisch
teilweise mit dem sogenannten Münchner Zyklus decken, vgl. Goldberg 1983, S.62-63. Vgl. Straub
1969, S.148. Freundlicher Hinweis von Dr. Babette Ball.

50 Die Höfe dieser Gebiete standen durch Heiratspolitik sowie durch Verhandlungen in engem Kon-
takt, was sich bei der Gestaltung der Fürsteneinzüge bemerkbar machte, vgl. Kernodle 1944, S.59-
60. °

51 Der Herrscher wurde teilweise als Messias gedeutet, beispielsweise bei den Einzügen Charles VIII
(1484-1486), vgl. Konigson. In: Jacquot. III. 1975. S.55-69. Vgl. auch Smith 1989.

52 Man denke dabei an das generelle Erstarken des bürgerlichen Bewußtseins jener Zeit besonders in
den niederländischen Städten, vgl. Huizinga (1919). 1975", v.a. S.73-84.

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