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entsprangen, die visuelle Kunst durch lebende Darsteller atmen, sprechen und bisweilen agie-
ren zu lassen. Dies manifestiert sich ab dem 15. Jahrhundert vor allem formal in den zahlrei-
chen Bezügen zur zeitgenössischen Malerei und Skulptur, die dieselben Muster um Figuren
und Hintergrund kompositorisch einsetzten und dieselben emblematischen Szenenhinweise
gaben.

Zum einen ähnelten sich Werke der bildenden Kunst und lebende Bilder in Hinblick auf
ihren äußeren Rahmen, was beispielsweise die Behandlung von Architektonik, Raum und
Realität angeht: Ein zentraler Bogen, der das Innere eines Bildes öffnet, Vorhänge, die den
Hintergrund sowie die Szene selbst verschließen können, verschiedene Bildfelder zwischen
Säulen, die nebeneinander oder in Galerien gestaffelt sind, oder Dekorationen in Form von
Flaggen, Wimpeln, Schilden und dünnen Wachskerzen sind verbindende Elemente. Sie waren
schon bei mittelalterlichen Glasfenstern, Tapisserien, in Buchminiaturen, in einigen Gemäl-
den sowie in der sakralen Plastik vorgegeben. Die mittelalterliche Kunst entwickelte darüber-
hinaus den Typus des Zentralpavillions oder einer komplexen architektonischen Fassade als
Mittelpunkt sowie die Akzentuierung der Seiten durch Architektur. Der Typus, der formal am
engsten mit den lebenden Bildern korrespondierte, bildete sich an Gräbern und Altären von
der Gotik bis in die Renaissance aus (Abb. 1). Oft waren es die gleichen Schöpfer, die sich den
marmornen Schaustücken und den lebenden Straßentableaux widmeten und sich dabei der
gleichen Strukturen bedienten.28

Darüberhinaus lassen die Szenenarrangements innerhalb der Bildfelder Analogien zu den
lebenden Bildern finden. Vor allem in der sakralen Plastik fanden im Spätmittelalter wichtige
Veränderungen statt. Das symbolische Kultbild wurde nun vielfach durch ein Bild mit reali-
stischeren Zügen abgelöst. Im Passionszusammenhang oder in der Grabplastik finden sich
g'roßfigurige Szenen, die sich um eine Steigerung des realistischen Ausdrucks bemühten und
stark an einer neuen Realitätsdeutung interessiert waren. Im deutschsprachigen Raum denke
man an Werke von Hans Multscher, Veit Stoß, Adam Kraft oderTilman Riemenschneider. In
Frankreich kennt man Grablegungsszenen etwa von Jean Michel und George de la Sonettes.
In Italien - vor allem in der Emilia-Romagna - entstanden eindrucksvolle Beweinungsgrup-
pen, beispielsweise von Niccolö dall'Arca oder von Guido Mazzoni (Abb.2).29

Eine Sonderrolle nehmen die sogenannten »stehenden Bilder« ein, die vor allem in Itali-
en, aber auch im Burgund seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden und sich in
ihrem anschaulichen Charakter von den lebenden Bildern kaum unterschieden.30 Die »ste-
henden Bilder« kombinierten Malerei und Plastik so, daß sie beim schnellen Hinsehen an eine
Bühnensituation mit Bühnenbild und unbewegten Schauspielern erinnern. Ein Moment der
Passionsgeschichte wurde innerhalb eines Gesamtarrangements eingefroren und damit dem
Betrachter in lebendiger, theatralisch-einprägsamer Weise vor Augen geführt. Es ging um die

28 Ausführlich und mit einigen Bildbeispielen entwickelt Kernodle die Bezüge zwischen bildender
Kunst und den lebenden Bildern. Seine Untersuchung von 1944, in der er die Einflüsse von bilden-
der Kunst auf die Tableaux vi vants und schließlich auf das Renaissance-Theater nördlich der Alpen
entwickelt, ist nach wie vor die Ausführlichste zu den lebenden Bildern des 15. und 16. Jahrhun-
derts. Allerdings geht er wie sein Titel »FromArt to Theatre« schon impliziert, nicht von gegensei-
tigen Einflüssen aus. Zu formalen Analogien, vgl. Kernodle 1944, S.11-58.

29 Vgl. Pochat 1990. S. 144 - 155, der auch auf den Einfluß von Krippen verweist. Zu Guido Mazzonis
lebensgroßen, naturalistisch gestalteten Beweinungsgruppen der 80er und 90er Jahren-des 15.Jahr-
hunderts, vgl. Verdon 1978.

30 Der Begriff »stehende Bilder« wird hier von Pochat übernommen, der sich wiederum auf Kernodle
und Middeldorf bezieht, vgl. Pochat 1990, S.IX und S.144-155. Soeben erschienen ist die Arbeit
zum »handelnden Bildwerk in der Gotik«, die mir zum Redaktionsschluß noch nicht vorlag, vgl.
Tripps 1998.

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