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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0088
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»Sous tes doigts, sans Venus, le marbre est anime,« und »La joie, la surprise & l'amour sont
exprimes avec im tel enthousiasme, dans ce Pigmalion, qu 'on doute si ce n 'est pas plutöt par ses
regards que la statue est animee, que par le pouvoir sumaturel des Dieux qu'il invoque.«204

Diesem Lob schloß sich auch Denis Diderot an, der sich intensiv mit der Faszination an der
vollkommenen Illusion von Kunstwerken auseinandersetzte, und rühmte die lebendige Wir-
kung von Falconets Werk:

»quelle mollesse de chair! Non, ce n'estpas du marbre; appuyez-y votre doigt, et la matiere qui a

perdu sa durete cedera ä votre Impression.....O Falconet! comment as-tufait pour mettre dans un

morceau de pierre blanche la surprise, lajoie et Vamourfondus ensemble? Emule des dieux, s'ils
ont anime la statue, tu en as renouvele le miracle en animant le statuaire. «205

In seinen Augen wird nun der Künstler des 18. Jahrhunderts, der Bildhauer Falconet, dank
seiner künstlerischen Fähigkeit zum Pygmalion und damit zum Lebenserwecker. Diderot, der
ein neuartiges Rezeptionsmodell entwickelt hatte,206 forderte von den Künstlern ein sugge-
stives statt deskriptives Bild, denn seiner Ansicht nach war ein Kunstwerk nur dann wirklich
erfolgreich, wenn Kunst und Künstler vom Betrachter vergessen wurden. In diesem Zustand
existierte ein Kunstwerk nicht mehr als ein bloßes Stück Leinwand oder Marmor, sondern
wurde selbst zur Natur. Die Wirkung der Kunst resultierte nur aus der vollständigen Illusion
der Wirklichkeit. Er wies dem Schein eine extrem hohe Bewertung zu, indem er die Illusion
des Bildes als die Wirklichkeit selbst beschrieb.207 Anschauliches Beispiel für Diderots Freu-
de an vollkommener Täuschung sind die berühmten Salonkritiken aus dem Jahre 1767 zu den
Landschaften Vernets, die als Reisebeschreibungen beginnen und sich erst zum Schluß als
Bildbeschreibungen zu erkennen geben.208 »Nicht mehr unmittelbar auf das Objekt ist das
sinnliche Erleben gerichtet, sondern auf die Spiegelung des eigenen , sentiment' im Objekt.
[...] Sentimentalität' ist Selbstgenuß im Gegenständlichen, vergegenständlichender Selbst-
bezug und d.h. ,Aufklärung' über die Verfaßtheit des subjektiven Selbst.«209

Ein ganz wesentlicher und neuer Aspekt in der Rezeption des antiken Mythos stellte sich
in den 50er und 60er Jahren des 18. Jahrhunderts in Deutschland ein. Der Bildhauer und seine

204 Siehe Mercure de France. Octobre 1763 (II). S.19. und Novembre 1763. S.209.

205 Siehe Diderot: Salon de 1763. In: Assezat 1876. S.221/222.

206 Zur Ästhetik-Theorie Diderots, vgl. Borek 1983. S.53-73. Vgl. Kultermann 1987. S.93. Vgl. Kohle
1989. S.106-122.

207 Vgl. auch das 2.Kap. des »Essai sur la peinture« von Diderot (1765). In: Assezat 1876. S.468-473.
Vgl. zur Illusion, Kap.5.1.3.

208 Diderot mußte damals Bilder vermitteln, die seinen Lesern weder im Original noch durch Reproduk-
tion bekannt sein konnten. Daraus entwickelte er Grundmuster sprachlicher Bildreproduktionen,
die unabhängig von Vorkenntnissen bei den Lesern eine überzeugende Vorstellung von den Bildern
gewährleisteten. Er beschäftigte sich systematisch mit der Frage nach der Möglichkeit einer Über-
setzung von der Bildkunst in das Wort und forderte ab 1767 eine Bildbeigabe zu seinen Kritiken.
Dies markiert den methodisch bedeutsamen Schritt von der Bildbeschreibung zur Bilderklärung,
vgl. Osterkamp 1991. S.22-26. Bereits im 17. Jahrhundert erkannte Bellori das Problem. Von Diderot
sind viele Beschreibungen von Kunstwerken bekannt, in denen er den Gefühlseindruck des wirkli-
chen Gegenstandes, also des Vorbildes und nicht des Kunstproduktes dem Leser vermittelt, vgl.
auch Dieckmann 1969. S.49. Zur Technik Diderots Bildbeschreibung, seinen sprach- und
kunstphilosophischen Überlegungen und seiner Entwicklung in der Beschreibung vom naiven Um-
gang über die Periode der Skepis zum Standpunkt der Verneinung, vgl. Langen 1948.

209 Siehe Körner 1986, S.265. Zu berücksichtigen gilt stets, daß es sich um einen männlichen Blick-
winkel handelt. Die »Spiegelung des eigenen sentiments« im Kontext der Pygmalion-Geschichte
bezieht die Frauen nicht mit ein.

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