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mehr - sie entfiel, nur noch Amor blieb. Damit thematisierte Rousseau nicht mehr die Er-
schaffung des Menschen durch göttliches, sondern die Belebung der Kunst durch eigen-
ständiges, menschliches Handeln, durch die Liebe und das Begehren Pygmalions. Die Göttin
als äußere Kraft wurde in die innere Kraft der Liebe Pygmalions verwandelt. Rousseau fasste
erstmals die Pygmalion-Fabel als eine »Künstlerlegende« auf und behandelte den Stoff aus-
schließlich unter dem Aspekt der inneren Problematik des Künstlers.198 Diese Auslegung
entsprach dem sich steigernden Selbstwertgefühl des Künstlers jener Zeit, der sich in sein
Geschöpf kongenial einfühlte. Der cyprische Bildhauer wurde zum Exempel für die bele-
bende Kraft ästhetischer Imagination.199

Auch auf dem Gebiet der Malerei und Skulptur entwickelte sich der Pygmalion-Stoff zu
einem beliebten Motiv, wobei nicht die eigentliche Textstelle illustriert wurde, die die Statue
bei ihrer Metamorphose bereits auf dem Lager neben Pygmalion beschreibt.200 Das Interesse
galt vielmehr der Statue als Kunstwerk unter Hervorhebung zweier Momente: der Darstellung
der nackten Frau und der Psyche Pygmalions.201 Den größten Erfolg beim Publikum errang
die Marmorskulptur von Etienne Maurice Falconet (1716-1791), die 1763 im Salon du Lou-
vre ausgestellt war, im gleichen Jahr also, als Rousseau sein Melodrama schrieb (Abb. 12).202
Dies geschah sicherlich unabhängig voneinander, doch läßt sich an der Koinzidenz sehen,
wie stark das Interesse an dieser neuen Auslegung war, bei der die menschliche Kraft zur
Lebenserweckung im Mittelpunkt stand. Falconet selbst formulierte seine Forderungen nach
der Verlebendigung und Beseelung der Skulptur, die dem zeitgenössischen Postulat eines
individuellen und sensitiven Natur- wie Kunsterlebens entsprachen, in den »Reflexions sur la
sculpture« (1760):

»C'estla nature vivante, animeepassionnee que le sculpteur doit exprimer sur le marbre, le bronze,
lapierre etc.«203

Es scheint ihm mit seiner Statue gelungen zu sein, denn die Kritiker des »Mercure de France«
priesen:

198 Vgl. Dinter 1979, S.96-100. Schon in Gedichten der französischen Frühaufklärer fiel die Göttin
aufgrund der aufgeklärten, philosophisch engagierten Einstellung, die sich gegen die dämonisierte
Macht einer Göttin wandte, weg. In Gedichten von Voltaire und Saint-Lambert wurde die Liebe als
Übermacht thematisiert, vgl. Dinter 1979, S.72-75. Auf dem Gebiet der bildenden Kunst ist zu
beobachten, daß die Statue in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach ihrer Verlebendigung die
Liebesgöttin anblickte und sich erst im Verlauf der Epoche immer mehr dem Bildhauer zuwandte.
Die Liebe Pygmalions wurde zunehmend von seinem belebten Werk erwidert, die Präsenz der
Venus hingegen immer schwächer. Die Konzentration auf die Darstellung der Liebe zwischen dem
Künstler und seinem Werk konnte ohne die Göttin stärker und intimer dargestellt werden. Vgl.
Blühm 1988, S.106-107 und S.lll. Vgl. Dörrie 1974, S.52. Vgl. Kultermann 1987, S.8.

199 Fink setzt die neue Auffassung des Künstlers als schöpferisches Genie im Zusammenhang mit dem
Pygmalion-Motiv erst im Sturm und Drang an, meines Erachtens zu spät, gerade wenn man Rousseaus
Stück vor Augen hat, vgl. Fink 1983. S.101.

200 Vgl. Ovid. In: Breitenbach 1988. S.326.

201 Beispiele wären 1750 Deshays, 1767 Boucher, 1770 die Schule von Fragonard, 1777 und 1781
Lagrenee, 1785 Regnault um nur einige zu nennen, vgl. die Auflistung bei Dörrie 1974. S.74-77.
Vgl. Blühm 1988. S.106-107.

202 Falconet hatte sich in zahlreichen Variationen immer wieder mit dem Thema auseinandergesetzt,
vgl. Kultermann 1987. S.8.

203 Siehe Falconet (1760). 1970; Bd.III. S.4.

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