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ten Unterweisung war schließlich der Liebesakt.195 Die belebte Statue fungierte als ideales
Beweisstück materialistisch-sensualistischer Anthropologie und Erkenntnistheorie, wie es
schließlich Etienne Bonnot de Condillac (1715-1780) in seiner Abhandlung »Tratte des
Sensations« (1754) darlegen sollte.196

Zur neuen Welle der »Empfindsamkeit« trug auch Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)
bei, dem es in seinen Theorien primär um die Frage nach einem neuen Selbstverständnis des
Menschen und seiner Stellung in der Gesellschaft ging.197 Gemäß seiner Theorie eines
Selbstbestimmungskonzeptes des Menschen leistete er einen großen Beitrag zur Neubewer-
tung des Pygmalion-Stoffes: In seinem formal wie inhaltlich revolutionären Melodrama »Pyg-
malion. Scene lyrique« von 1762/63, das erst 1770 vertont und aufgeführt und 1771 im »Mer-
cure de France« publiziert wurde, waren nur noch Pygmalion und die Statue »Galathea«
Akteure. Die Göttin der Liebe spielte, im Gegensatz zu früheren Interpretationen, keine Rolle

195 Vgl. Dinter 1979, S.75-83. Die Erzählung wurde aufgrund ihrer unverhüllten materialistischen
Aussagen, die im krassen Gegensatz zu den Lehren der Kirche standen, sofort auf den Index ge-
setzt. Sie erschien 1743 in Berlin und 1748 in Hamburg in deutscher Übersetzung. Boureau-Deslandes
veröffentlichte im gleichen Jahre seine Abhandlung »Conte philosophique« (1741). Johann Jakob
Bodmer (1698-1783) hatte sich nur wenige Jahre später in der ersten deutschsprachigen Variante
»Pygmalion und Elise« (1747) mit der Belebung der Statue - auch in Hinblick auf den grundsätzli-
chen Zusammenhang von Sein und Fühlen - beschäftigt. Zu Boureau-Deslandes und Nachfolgern,
vgl. Blühm 1988. S.101-108. Vgl. Dinter 1979, S.65-119. Vgl. Dörrie 1974. S.55-58. Vgl. Fink
1983. S.92-93. Vgl. Kreimendahl 1983. S.XXXIII. Vgl. Kultermann 1987. S.4. Vgl. Schlüter 1968.
S.11-44. Vgl. Schneider 1987. S. 115-116. Vgl. Sckommodau 1970. S.64-69.

196 Etienne Bonnot de Condillac führte erstmals in seiner Abhandlung »Trade des Sensations« jegliche
Erkenntnis auf die Sinneserfahrung zurück, vgl. Condillac 1754. Vorläufer waren John Locke (1632-
1704) mit seinem »Essay Concerning Human linder Standing« (1690) und der Abbe Jean Baptiste
Dubos (1670-1742) mit seiner Schrift »Reflexions critiqu.es sur la poesie et la peinture« (1719).
Von Interesse war nun das individuelle Erkenntnisvermögen des Rezipienten, Urteilsinstanz wurde
nun das »Sentiment« nicht mehr die »Raison«. Dubos war mit seinem Werk Begründer der Wirkungs-
und Gefühlsästhetik, vgl. vor allem Tavernier 1984. S.158-160. Vgl. Bätschmann 1985. S.191-196.
Vgl. Tavernier 1986. S.52 und 70. Vgl. Kultermann 1987. S.84. Vgl. Pochat 1986. S.372/373. Vgl.
Dieckmann 1969. S.41-45. Condillac stattete in seiner Abhandlung eine Statue nacheinander mit
den fünf Sinnen aus und stellte den Tastsinn an die höchste Stelle. Damit griff er - in Anlehnung an
Locke und Dubos - das Primat des Gesichtssinns an, der noch in der Frühaufklärung als der höch-
ste Wahrnehmungssinn eingestuft wurde. Zur anthropologischen Dimension der Aufwertung des
Tastsinns im 18. Jahrhundert, vgl. Knab 1996, S. 101-107. Vgl. Pfotenhauer 1991, S.29. Condillac
handelte sich mit seiner Schrift den Vorwurf des Plagiatismus ein: in Bezug auf die Aufwertung des
Tastsinns und die Belebung einer Statue kopiere sein Werk Denis Diderots »Lettre sur les aveugles
ä l'usage de ceux qui voient« (1749) und »Lettre sur les Sourds et Muets ä l'usage de ceux qui
entendent et qui parlent« (1751), Georges-Louis Ledere, Comte de Buffons (1707-88) »Histoire
Naturelle, Generale et Particuliere« (1749) und natürlich die Abhandlung »Conte philo sophique«
(1741) und die Erzählung »Pigmalion ou la Statue animee« (1741) von Boureau-Deslandes. Es
kann nicht nachgewiesen werden, ob er das Thema einem der Autoren direkt entlehnte, oder ob das
Bild ganz allgemein so populär- war, vgl. Grimm: December 1754. 1. Partie. Tome 1. (1813). S.
257-267.

197 Rousseau verfocht die prinzipielle Antithese von Natürlichem und Künstlichem, von Natur und
Entartung, vgl. auch Bockow 1984. S.42. Zur Empfindsamkeit, vgl. Sauder Bd.III. 1980. S.IX. Vgl.
auch Balet 1938 (1981). S.301 - 318. Balet erläutert die einzelnen Entwicklungsstufen der Auf-
wertung der »Sinnlichkeit« gegenüber dem »Verstand« von Gottsched über Bodmer, Breitinger,
Wolff, Leibnitz, Baumgarten, Meier bis zu Tetens und Kant.

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