Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0085
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
des Materials und der belebten idellen Wirklichkeit der Kunst, zur Personifikation ästheti-
scher Prinzipien. Der Glaube an die Macht der Kunst, die nicht nur nachahmen, sondern auch
erschaffen kann, kommt anschaulich zum Ausdruck. Er entspricht dem immerwährenden Traum
des Künstlers, das innewohnende Leben des Artefakts sichtbar zu machen.190

Die Deutung des Pygmalion-Stoffes unterlag im Laufe der Geschichte stets den jeweils
bestimmenden kulturellen und zeitlichen Gegebenheiten.191 Nach einer langen Zeit restriktiv-
negativer Bewertung des Themas entwickelte sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
ein breites Interesse vor allem an der scherzhaft-vordergründigen Komponente der Geschichte.
Oft diente der ovid'sche Bericht als bloßer Vorwand für erotische Darstellungen.192 Erst um
die Jahrhundertmitte erhielt das Motiv der belebten Statue eine neue Dimension, die im kon-
kreten Zusammenhang mit der Theorie des Sensualismus und einer neuen Geisteshaltung zu
sehen ist.193 Das belebte Bild avancierte nun - neben dem nach wie vor erotischem Begierde-
objekt - zum Demonstrationsobjekt für philosophische, pädagogische und moralische Be-
trachtungen und gerade für die französischen Sensualisten zum Anschauungsmodell für die
Darlegung der Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Wahrnehmungsäpparat.194

War bisher der Bildhauer Pygmalion im Zentrum der Geschichte gestanden, so tritt erst-
mals mit der Erzählung des französischen Frühmaterialisten Andre-Francois Boureau-Des-
landes (1690-1757) »Pigmalion ou la statue anim.ee« (1741 anonym veröffentlicht) die Sta-
tue in den Mittelpunkt des Interesses. Sein Anliegen war es - im Gegensatz zu allen früheren
Bearbeitungen des mythologischen Stoffes -, sowohl materialistische Erklärungen des Le-
bens als auch die sensualistische Erkenntnistheorie anhand dieser Geschichte zu illustrieren.
Daher belebt sich seine Statue aus sich selbst heraus, nicht unter den Händen Pygmalions, der
lediglich den Wandlungsprozess beobachtet und schließlich als Lehrmeister die Statue in ihr
menschliches Leben einweist. Boureau-Deslandes schlüpft selbst in die Rolle des Pygmalion,
indem er die Belebung demonstriert und kommentiert - zunächst in einem theoretischen Ex-
kurs, dann in der Schilderung des Belebungsvorgangs. Höhepunkt der materialistisch konzipier-

190 Vgl. Kultermann 1987. S.3. Unter den Verwandlungssagen ist sie die einzige, in der ein Künstler
eine Hauptrolle spielt, vgl. Blühm 1988. S.16. Zweifelsohne sind die Symbolebenen der Statue
sehr vielfältig, die aber in diesem Zusammenhang nicht alle erläutert werden können. Zum komple-

' xen Symbol des Weiblichen, vgl. Warner 1989. S.312-314.

191 Vgl. zu den vielen verschiedenen Auslegungen der Gestalt des Pygmalion, MacDougall Ray 1981.
Vgl. Blühm 1988 mit ausführlichem Katalog. In der Antike gehörte die Erzählung zu einer von
mehreren Erschaffungslegenden, vgl. Warner 1989. S.293-327. Seit der Spätantike bis in das 13. Jahr-
hundert ist weder eine schriftlich Erwähnung noch eine bildliche Gestaltung zum Pygmalion-The-
ma überliefert, vgl. Dome 1974. S.31. Im Mittelalter verstand man das Pygmalion-Motiv als eroti-
sche Perversion, die ursprünglich positiv erotische Aussagekraft erhielt einen negativen Sinn, vgl.
Dörrie 1974. S.16, S.32-35. Vgl. Warner 1989. S.314. Aus der Zeit der Renaissance und des Früh-
barock beweisen vor allem Zeichnungen, daß es eine Überlieferung des Pygmalion-Motivs gab,
obwohl bis zu den ersten Opern Ende des 17. Jahrhunderts keine schriftliche Abhandlung der The-
matik bekannt ist, vgl. Dörrie 1974. S.36 und S.64. Erst ab 1689 wurde der Pygmalion-Stoff fester
Bestand der Gattungen Ballett, Oper und Operette, vgl. Dörrie 1974. S.42 und Blühm 1988. S.75.

192 Vgl. Dörrie 1974. S.53. Vgl. Schommodau 1970. S.51.

193 Vgl. zur Pygmalionrezeption in der bildenden, darstellenden und literarischen Kunst ab der Mitte
des 18. Jahrhunderts Dörrie 1974, S.74-84, Carr 1960. S.241/242, Buske 1915. S.347-354, Blühm
1988. S.75-95. Zum Anstieg des Sujets der antiken Statue in der bildenden Kunst, vgl. Held 1990.
S.216-251.

194 Vgl. Fink 1983. S.92. Vgl. Kultermann 1987. S.4. Vgl. Sckommodau 1970. S.52.

85
 
Annotationen