1897
JUGEND
Nr. 26
Mutter hinein, und die Mutter sah, dass
er krank war und legte ihn ins Bett. Und
in ein paar Tagen war der Junge todt.
Aber damit ist seine Geschichte noch
nicht zu Ende.
Es geschah nämlich, dass seine Mutter
aus rechter Herzenstiefe über ihn trauerte,
mit einem Schmerz, der den Jahren und
dem Tode trotzt. Seine Mutter hatte noch
mehrere andere Kinder, mancherlei Sorgen
nahmen ihre Zeit und Gedanken in An-
spruch, aber immer gab es eine Stelle in
ihrer Seele, wo ihr Sohn Rüben ganz
ungestört wohnen konnte. Sah sie eine
Kinderschaar auf dem Markte spielen, so
sprang er unter ihnen mit, und wenn sie
drinnen im Hause aufräumte, glaubte sie
fest und sicher, dass der Kleine noch
draussen auf der gefährlichen Steintreppe
sässe und schliefe. Sicher war keines der
lebenden Kinder so ständig in ihren Ge-
danken, wie das todte.
Einige Jahre nach seinem Tode bekam
der kleine Rüben eine kleine Schwester, und
als diese so alt wurde, dass sie auf den
Markt hinausspringen konnte und Kreisel
spielen, geschah es, dass auch sie sich
auf die Steintreppe setzte, um sich aus-
zuruhen. Aber in demselben Augenblick
hatte die Mutter ein Gefühl, als wenn sie
jemand am Rock gezupft hätte. Sie kam
sogleich hinaus und riss das kleine Schwe-
sterchen so heftig in die Höhe, dass es
sich daran erinnerte, so lange es lebte.
Und noch weniger vergass es, wie
merkwürdig Mutters Gesicht dabei aussah
und wie ihre Stimme zitterte, als sie sagte:
„Weisst Du, Du hattest einmal einen kleinen
Bruder, der Rüben hiess, und der starb,
weil er hier auf der Steintreppe gesessen
und sich erkältet hatte. Duiwillst deiner
Mutter doch wohl nicht auch sterben,
Berthachen ?“
{.Bald sahen Rubens Brüder und Schwe-
ster ihn ebenso leibhaftig vor sich, wie ihre
Mutter. Und bald besassen sie dieselbe
Fähigkeit, ihn draussen auf der Steintreppe
sitzen zu sehen. Und natürlich fiel es
daher keinem von ihnen ein, sich dorthin
zu setzen. Ja, sobald sie jemand auf einer
Steintreppe oder auf einem Steingeländer
oder einem Stein am Wegrande sitzen
sahen, ging ihnen immer ein Stich durch
das Herz und sie mussten an Bruder
Rüben denken.
Ferner widerfuhr es Bruder Rüben,
dass er von allen Geschwistern am höchsten
geschätzt wurde, wenn sie von einander
sprachen. Denn alle Kinder wussten ja,
dass sie ungezogen und unnütz wären und
der Mutter nur Mühe und Sorge bereiteten.
Sie konnten sich nicht denken, dass Mutter
auch so darüber trauern würde, wenn sie
eines von ihnen verloren hätte. Aber da
Mutter über Bruder Rüben wirklich trauerte,
war es ja sicher, dass er sehr viel artiger
gewesen sein musste, als sie es waren.
Es geschah nicht so selten, dass eines
von ihnen dachte: „Ach, wer Mutter so
viel Freude, wie Bruder Rüben bereiten
könnte!“ Und doch wusste niemand etwas
Anderes von ihm, als dass er Kreisel ge-
spielt und sich auf einer Steintreppe er-
kältet hatte. Aber er musste ja ein merk-
würdiges Kind gewesen sein, da Mutter
eine solche Liebe zu ihm empfand.
Merkwürdig war er auch darin, dass
er Mutter die meiste Freude von allen
Kindern bereitete. Sie war Wittwe ge-
worden und arbeitete in Trauer und Floth.
Leo Prochowtiik (Berlin).
Aber die Kinder waren so tief überzeugt
von der Trauer der Mutter über den kleinen
Dreijährigen, dass sie nicht daran zweifel-
ten, dass Mutter, wenn er nur gelebt hätte,
nicht mehr über ihr Unglück getrauert
haben würde. Und jedes Mal, wenn sie
Mutter weinen sahen, glaubten sie, es ge-
schähe darum, weil Rüben todt war, oder
auch desshalb, weil sie selbst nicht waren,
wie ihr Bruder Rüben. Bald entstand in
ihnen wohl die Lust, mit dem kleinen
Todten um die Zuneigung der Mutter zu
kämpfen. Es gab nichts, was sie nicht für
Mutter hätten thun mögen, wenn sie sie
nur ebenso gern gehabt hätte, wie ihn.
Und um dieser Sehnsucht willen war
Bruder Rüben das nützlichste aller Kinder
seiner Mutter.
Sie wuchsen auf zu tüchtigen Menschen,
sie arbeiteten sich zu Vermögen und An-
sehen empor, während Bruder Rüben nur
still auf seiner Steintreppe sass. Aber er
hatte doch einen Vorsprung, er war un-
erreichbar. Und bei Allem, was auch ge-
schah, sagte Mutter: „Ach, dass mein
kleiner Rüben das nicht zu sehen bekam!“
Bruder Rüben folgte der Mutter durch
ihr ganzes Leben bis zu ihrem Todtenbett.
Er nahm ihren Todesqualen den Stachel,
da sie wusste, dass sie'zu ihm ging.
Aber auch nach ihrem Tode war die
Geschichte des kleinen Rüben nicht zu
Ende. Allen seinen Geschwistern war er
ein Symbol des strebsamen Lebens in
ihrem Elternhause geworden, der Liebe
zur Mutter, all’ der rührenden Erinner-
ungen aus den Jahren der Plage und des
Unglücks. Es lag immer etwas Warmes
und Schönes in ihren Stimmen, wenn sie
von ihm sprachen.
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Nr. 26
Mutter hinein, und die Mutter sah, dass
er krank war und legte ihn ins Bett. Und
in ein paar Tagen war der Junge todt.
Aber damit ist seine Geschichte noch
nicht zu Ende.
Es geschah nämlich, dass seine Mutter
aus rechter Herzenstiefe über ihn trauerte,
mit einem Schmerz, der den Jahren und
dem Tode trotzt. Seine Mutter hatte noch
mehrere andere Kinder, mancherlei Sorgen
nahmen ihre Zeit und Gedanken in An-
spruch, aber immer gab es eine Stelle in
ihrer Seele, wo ihr Sohn Rüben ganz
ungestört wohnen konnte. Sah sie eine
Kinderschaar auf dem Markte spielen, so
sprang er unter ihnen mit, und wenn sie
drinnen im Hause aufräumte, glaubte sie
fest und sicher, dass der Kleine noch
draussen auf der gefährlichen Steintreppe
sässe und schliefe. Sicher war keines der
lebenden Kinder so ständig in ihren Ge-
danken, wie das todte.
Einige Jahre nach seinem Tode bekam
der kleine Rüben eine kleine Schwester, und
als diese so alt wurde, dass sie auf den
Markt hinausspringen konnte und Kreisel
spielen, geschah es, dass auch sie sich
auf die Steintreppe setzte, um sich aus-
zuruhen. Aber in demselben Augenblick
hatte die Mutter ein Gefühl, als wenn sie
jemand am Rock gezupft hätte. Sie kam
sogleich hinaus und riss das kleine Schwe-
sterchen so heftig in die Höhe, dass es
sich daran erinnerte, so lange es lebte.
Und noch weniger vergass es, wie
merkwürdig Mutters Gesicht dabei aussah
und wie ihre Stimme zitterte, als sie sagte:
„Weisst Du, Du hattest einmal einen kleinen
Bruder, der Rüben hiess, und der starb,
weil er hier auf der Steintreppe gesessen
und sich erkältet hatte. Duiwillst deiner
Mutter doch wohl nicht auch sterben,
Berthachen ?“
{.Bald sahen Rubens Brüder und Schwe-
ster ihn ebenso leibhaftig vor sich, wie ihre
Mutter. Und bald besassen sie dieselbe
Fähigkeit, ihn draussen auf der Steintreppe
sitzen zu sehen. Und natürlich fiel es
daher keinem von ihnen ein, sich dorthin
zu setzen. Ja, sobald sie jemand auf einer
Steintreppe oder auf einem Steingeländer
oder einem Stein am Wegrande sitzen
sahen, ging ihnen immer ein Stich durch
das Herz und sie mussten an Bruder
Rüben denken.
Ferner widerfuhr es Bruder Rüben,
dass er von allen Geschwistern am höchsten
geschätzt wurde, wenn sie von einander
sprachen. Denn alle Kinder wussten ja,
dass sie ungezogen und unnütz wären und
der Mutter nur Mühe und Sorge bereiteten.
Sie konnten sich nicht denken, dass Mutter
auch so darüber trauern würde, wenn sie
eines von ihnen verloren hätte. Aber da
Mutter über Bruder Rüben wirklich trauerte,
war es ja sicher, dass er sehr viel artiger
gewesen sein musste, als sie es waren.
Es geschah nicht so selten, dass eines
von ihnen dachte: „Ach, wer Mutter so
viel Freude, wie Bruder Rüben bereiten
könnte!“ Und doch wusste niemand etwas
Anderes von ihm, als dass er Kreisel ge-
spielt und sich auf einer Steintreppe er-
kältet hatte. Aber er musste ja ein merk-
würdiges Kind gewesen sein, da Mutter
eine solche Liebe zu ihm empfand.
Merkwürdig war er auch darin, dass
er Mutter die meiste Freude von allen
Kindern bereitete. Sie war Wittwe ge-
worden und arbeitete in Trauer und Floth.
Leo Prochowtiik (Berlin).
Aber die Kinder waren so tief überzeugt
von der Trauer der Mutter über den kleinen
Dreijährigen, dass sie nicht daran zweifel-
ten, dass Mutter, wenn er nur gelebt hätte,
nicht mehr über ihr Unglück getrauert
haben würde. Und jedes Mal, wenn sie
Mutter weinen sahen, glaubten sie, es ge-
schähe darum, weil Rüben todt war, oder
auch desshalb, weil sie selbst nicht waren,
wie ihr Bruder Rüben. Bald entstand in
ihnen wohl die Lust, mit dem kleinen
Todten um die Zuneigung der Mutter zu
kämpfen. Es gab nichts, was sie nicht für
Mutter hätten thun mögen, wenn sie sie
nur ebenso gern gehabt hätte, wie ihn.
Und um dieser Sehnsucht willen war
Bruder Rüben das nützlichste aller Kinder
seiner Mutter.
Sie wuchsen auf zu tüchtigen Menschen,
sie arbeiteten sich zu Vermögen und An-
sehen empor, während Bruder Rüben nur
still auf seiner Steintreppe sass. Aber er
hatte doch einen Vorsprung, er war un-
erreichbar. Und bei Allem, was auch ge-
schah, sagte Mutter: „Ach, dass mein
kleiner Rüben das nicht zu sehen bekam!“
Bruder Rüben folgte der Mutter durch
ihr ganzes Leben bis zu ihrem Todtenbett.
Er nahm ihren Todesqualen den Stachel,
da sie wusste, dass sie'zu ihm ging.
Aber auch nach ihrem Tode war die
Geschichte des kleinen Rüben nicht zu
Ende. Allen seinen Geschwistern war er
ein Symbol des strebsamen Lebens in
ihrem Elternhause geworden, der Liebe
zur Mutter, all’ der rührenden Erinner-
ungen aus den Jahren der Plage und des
Unglücks. Es lag immer etwas Warmes
und Schönes in ihren Stimmen, wenn sie
von ihm sprachen.
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