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I

Herrenchiemsee

Willi Reue

Von Hans Herms

ust in dem Augenblick, da Dr. Hansen
die Rlinik verlassen wollte, wurde von
Unfallstation West ein Autounglück gemel-
det: Zusammenprall, Frau am Steuer be-
sinnungslos, äußere Verletzungen nicht
festzustellen. Hansen eilte ins Haus zurück
und zog den weißen Mantel wieder an.
Da fuhr auch schon der wagen vor und
eine Frau in Reisemantel und offener
Autokappe wurde in den lichterfüllten
Gperationssaal getragen. Hansen trat zur
Bahre. Ein brechender Blick sah ihn aus
blauen Augen an. — Hansen erschrak: —
Diese blauen Augen, das blonde Haar —
G Gott, das war ja die Frau — Und seine
Gedanken taumelten.

*

Am Bodensee — vor zwei Jahren —
Hansen war damals mit dem Postschiff
am frühen Morgen von Lindau zum
Schweizer Ufer hinübergefahren. In Was-
serburg war die blonde Frau zugestiegen
und hatte ihn bei der Überfahrt nach dem
Anschluß nach Linthal gefragt. So waren

sie ins Gespräch gekommen. Beide hatten
das gleiche Ziel. In Rorschach nahmen sie
den Zug und fuhren im sonnigen Morgen
den Bergen zu. Der schöne junge Tag, die
gewaltige Bergeswelt, die grünen Täler
und blaugrünen Seen — das alles erfreute
sie so, daß sie bald vertraut miteinander
wurden.

In Linthal bestiegen sie die Alpenpost
und fuhren zum Rlausenpaß hinauf. Auf
dem Urnerboden stand ein schweres Ge-
witter mit Donner und Regen. Ängstlich
saß die blonde Frau Hansen zur Seite.
Als dann aber die Sonne wieder leuchtete
und der schwere wagen die letzten Lehren
nahm und bei jeder scharfen Lurve die bei-
den bald hin-, bald herüber warf, da lachten
sie ausgelassen.

Auf der Paßhöhe war Aufenthalt. Da
standen sie Seite an Seite und blickten
trunken und versunken zu den ewigen
Firnen. Und als es wieder talab ging,
dem Urnersee zu, rückten sie naher anein-
ander und sahen sich fröhlich an — zwei
fremde Menschen.

Gegen Abend kamen sie nach Flüelen
und fanden Guartier im Urnerhos. Ihre
Zimmer lagen im ersten Stock, vor dem
ein Balkon sich lang hinzog, der herrliche
Aussicht auf See und Berge bot.

Nach dem Abendessen führte Hansen die
blonde Frau zum See hinunter, über den
ein feiner Dämmerschleier wob. Auf einer
blütenumrankten Terrasse tranken sie gold-
gelben Terlaner. Und als ihre Gläser
klangen und sie sich lachend in die Augen
sahen, flog leise ein du von Mund zu
Mund. Sie waren Freunde geworden.

Die blonde Frau wollte ihren Flamen
nicht sagen, und Hansen solle auch nicht
fragen, bat sie. „So will ich dich „Blonde'
heißen!", sagte Hansen.

Arm in Arm gingen sie durch die helle
Mondnacht zum See zurück. Unter den
dunklen Baumen bei der Schiffslande
küßten sie sich. Als sie vor Blondes Tür
standen, versprach sie Hansen, noch mit auf
den Balkon hinauszukommen. Vor ihrem
Zimmer saßen sie, Hand in Hand, und
sahen auf die stille Wasserfläche.

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Willi Reue: Herrenchiemsee
Hans Herms: Blonde
 
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