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Die selben Kriterien lassen sich auch in der Kunst anwenden: "Les memes moyens
servent ä reconnaltre les differentes manieres de la Peinture & de la Sculpture". Die
Kunst zeigt ihre Formensuche in der Zeichnung, die ihren Schriftcharakter aus dem
Bemühen des Künstlers bezieht, die Natur nachzuahmen: "car je puis ajoüter que
l'Artiste s'attache en vain ä copier la Nature teile qu'il voit: il le veut". Der Wille und
die Fähigkeit, Natur nachzuahmen, werden zu einem stilistischen Unterscheidungs-
kriterium. Durch Vergleich einer genügend großen Zahl von Gegenständen kann es
einem gelingen, einen Künstler, eine Schule, eine Nation zu "lesen": "quand on a
compare un nombre süffisant de morceaux, pour apprendre, en quelque sorte, ä lire
l'Auteur, l'Ecole, & la Nation"22.
Winckelmann erkennt an, daß Caylus als erster den Begriff "Stil" in die Kunstkri-
tik der Antike eingeführt hat: "Lui e il primo a cui tocca la gloria d'essersi incaminato
per antrare nella sostanza dello Stile deH'Arte de'Popoli antichi"23. Dies ist das einzige
uneingeschränkte Lob, das Winckelmann Caylus zuteil werden läßt, ansonsten kriti-
siert er ihn. Von seinem Freund Stosch will er wissen, wie Graf Caylus "von unserem
Werke" denkt. Eine Neugierde, die zeigt, daß ihm an der Anerkennung gerade dieses
Antiquars und Altertumswissenschaftlers gelegen ist, obwohl er ihn als Aufschneider
abqualifiziert: "Dieses ist ein Mann, der die Gabe hat, von Nichts viel zu sagen; wie ich
sonderlich aus dem dritten Bande seines Recueil d'Antiq. sehe"24.
Winckelmanns Verhalten Caylus gegenüber kann man zu Recht als "coquetterie
mechante"25 bezeichnen, die sich auch zeigte, als Winckelmann seinen Einfluß in der
Villa des Kardinals Albani bedroht sah. Caylus standen in Paris viel zu wenige und oft
nur geringwertige Kunstgegenstände zur Verfügung, so daß sich Winckelmann dar-
über wundert, warum "dieser Herr keinen Correspondenten in Rom hat, der ihm
einige Nachricht ertheilen könnte". Er findet auch bei Caylus seine Auffassung bestä-
tigt, daß man sich nicht auf die Kupferstecher verlassen könne und daß es nicht
möglich sei, "außerhalb Rom zu schreiben, ohne irgend einen Fehler zu machen." Mit
scheinbar großzügiger Geste bietet er Caylus Hilfe an, ohne sich direkt an ihn zu
wenden: "Wenn der Herr Graf von Caylus die Wahrheit zu wißen wünschet, bin ich
geneigt, ihm die nöthigen Aufschlüße zu ertheilen"26. Wie ernst er es mit seinem
herablassend-ironischen Angebot meint, zeigt seine argwöhnische und eifersüchtige
Receuil d'Antiquite... Bd.III, Paris 1759, Preface S. XX
Briefe, Bd.I, S.394, an Bianconi, 22. Juli 1758
Briefe, Bd.II, S.96, an Stosch, 26. Juli 1760
Samuel Rocheblave, Essai sur le Comte de Caylus... S.342
Briefe Bd. I, S.320, an Wille, 1. Hälfte Dez. 1757.
Ähnlich an Usteri: "Herr Graf Caylus irret, denn er weiß nicht genug. Ich kann viel mehr wißen als er
und als die hiesige Künstler, und dieses ist nicht bloß potentia. Hier müßte er ein Schüler werden."
(Briefe, Bd. II, S.182).
Paolo Maria Paciaudi, Theatinerpater, Archäologe und Bibliothekar, mit dem Winckelmann in
brieflichem Verkehr stand und der wiederum einen regen Briefwechsel mit Caylus hatte, schrieb an
diesen über Winckelmanns Kritikernaturell: "A la verite quelquefois il est un peu vif ä attaquer les
autres; je ne comprends pas comment un homme si doux, si honnete, ecrit avec tant de vivacite."
(Briefe, Bd. II, S.399).
Die selben Kriterien lassen sich auch in der Kunst anwenden: "Les memes moyens
servent ä reconnaltre les differentes manieres de la Peinture & de la Sculpture". Die
Kunst zeigt ihre Formensuche in der Zeichnung, die ihren Schriftcharakter aus dem
Bemühen des Künstlers bezieht, die Natur nachzuahmen: "car je puis ajoüter que
l'Artiste s'attache en vain ä copier la Nature teile qu'il voit: il le veut". Der Wille und
die Fähigkeit, Natur nachzuahmen, werden zu einem stilistischen Unterscheidungs-
kriterium. Durch Vergleich einer genügend großen Zahl von Gegenständen kann es
einem gelingen, einen Künstler, eine Schule, eine Nation zu "lesen": "quand on a
compare un nombre süffisant de morceaux, pour apprendre, en quelque sorte, ä lire
l'Auteur, l'Ecole, & la Nation"22.
Winckelmann erkennt an, daß Caylus als erster den Begriff "Stil" in die Kunstkri-
tik der Antike eingeführt hat: "Lui e il primo a cui tocca la gloria d'essersi incaminato
per antrare nella sostanza dello Stile deH'Arte de'Popoli antichi"23. Dies ist das einzige
uneingeschränkte Lob, das Winckelmann Caylus zuteil werden läßt, ansonsten kriti-
siert er ihn. Von seinem Freund Stosch will er wissen, wie Graf Caylus "von unserem
Werke" denkt. Eine Neugierde, die zeigt, daß ihm an der Anerkennung gerade dieses
Antiquars und Altertumswissenschaftlers gelegen ist, obwohl er ihn als Aufschneider
abqualifiziert: "Dieses ist ein Mann, der die Gabe hat, von Nichts viel zu sagen; wie ich
sonderlich aus dem dritten Bande seines Recueil d'Antiq. sehe"24.
Winckelmanns Verhalten Caylus gegenüber kann man zu Recht als "coquetterie
mechante"25 bezeichnen, die sich auch zeigte, als Winckelmann seinen Einfluß in der
Villa des Kardinals Albani bedroht sah. Caylus standen in Paris viel zu wenige und oft
nur geringwertige Kunstgegenstände zur Verfügung, so daß sich Winckelmann dar-
über wundert, warum "dieser Herr keinen Correspondenten in Rom hat, der ihm
einige Nachricht ertheilen könnte". Er findet auch bei Caylus seine Auffassung bestä-
tigt, daß man sich nicht auf die Kupferstecher verlassen könne und daß es nicht
möglich sei, "außerhalb Rom zu schreiben, ohne irgend einen Fehler zu machen." Mit
scheinbar großzügiger Geste bietet er Caylus Hilfe an, ohne sich direkt an ihn zu
wenden: "Wenn der Herr Graf von Caylus die Wahrheit zu wißen wünschet, bin ich
geneigt, ihm die nöthigen Aufschlüße zu ertheilen"26. Wie ernst er es mit seinem
herablassend-ironischen Angebot meint, zeigt seine argwöhnische und eifersüchtige
Receuil d'Antiquite... Bd.III, Paris 1759, Preface S. XX
Briefe, Bd.I, S.394, an Bianconi, 22. Juli 1758
Briefe, Bd.II, S.96, an Stosch, 26. Juli 1760
Samuel Rocheblave, Essai sur le Comte de Caylus... S.342
Briefe Bd. I, S.320, an Wille, 1. Hälfte Dez. 1757.
Ähnlich an Usteri: "Herr Graf Caylus irret, denn er weiß nicht genug. Ich kann viel mehr wißen als er
und als die hiesige Künstler, und dieses ist nicht bloß potentia. Hier müßte er ein Schüler werden."
(Briefe, Bd. II, S.182).
Paolo Maria Paciaudi, Theatinerpater, Archäologe und Bibliothekar, mit dem Winckelmann in
brieflichem Verkehr stand und der wiederum einen regen Briefwechsel mit Caylus hatte, schrieb an
diesen über Winckelmanns Kritikernaturell: "A la verite quelquefois il est un peu vif ä attaquer les
autres; je ne comprends pas comment un homme si doux, si honnete, ecrit avec tant de vivacite."
(Briefe, Bd. II, S.399).