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zwischen der Bedeutung der bezeichneten Dinge und dem Sinn des durch die Über-
tragung gewonnenen Bildes. Die Poesie wahrt sich in der Metapher sprachlich ein
Reservat, in dem die Beziehung zwischen Gegenständen und ihrer Kongruenz im
Bilde als natürliche Beziehung entstehen kann, wenn auch mit der Einschränkung,
"daß sie diese Zeichen selbst hinwiederum durch willkührliche ausdrücken muß."

Die willkürlichen Zeichen gewinnen auch insofern natürlichen Zeichencharakter,
als sie 'natürlich' wiedergegeben immer auf einander folgende Zeichen sind; die
Folge ist das Natürliche an den Zeichen: "Wenn also schon nicht die Wörter natürli-
che Zeichen sind, so kann doch ihre Folge die Kraft eines natürlichen Zeichens
haben." Die Folge der Worte wird nämlich zum natürlichen Zeichen, "wenn die
Worte vollkommen so aufeinander folgen, als die Dinge selbst, welche sie aus-
drücken."19 Damit gewinnt Lessing einen Blick für die Grenzbereiche der Kunstgat-
tung, indem er Kombinationsmöglichkeiten der natürlichen und willkürlichen Zei-
chen erkennt: "Beide [Poesie und Malerei] können ebenso natürlich, als willkürlich
sein; folglich muß es notwendig eine doppelte Malerei und eine doppelte Poesie
geben: wenigstens von den beiden eine höhere und eine niedere Gattung." Er revi-
diert seine strikte Zuweisung des Zeichencharakters (die Malerei bedient sich natür-
licher, die Poesie willkürlicher Zeichen), daß das in seiner systematischen Einteilung
im "Laokoon" Unvereinbare möglich wird: die Poesie nähert sich "um so mehr ihrer
Vollkommenheit", "je mehr sie ihre willkürlichen Zeichen den natürlichen näher
bringt."

Wenn die natürlichen Zeichen einen höheren Abbildcharakter verleihen, muß
auch die Poesie "schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erhe-
ben suchen". Die Poesie verfügt über "Mittel", die die Prosa nicht besitzt, um die
willkürlichen Zeichen den natürlichen näher zu bringen, es sind die "Kunstmittel",
die er schon in seinen Entwürfen erläuterte: "der Ton, die Worte, die Stellung der
Worte, das Silbenmaß, Figuren und Tropen, Gleichnisse u.s.w.". Die poetischen
Gattungen, die sich nur dieser "Mittel" bedienen, zählen zu den niederen Gattungen
der Poesie. Folglich ist die höchste Gattung der Poesie die, "welche die willkürlichen
Zeichen gänzlich zu natürlichen macht. Das ist aber die dramatische: denn in dieser
hören die Worte auf, willkürliche Zeichen zu sein, und werden natürliche Zeichen
willkürlicher Dinge."20

Im "Laokoon" versteift sich Lessing so sehr auf eine antithetische Anwendung
der Zeichentheorie, um die Darstellungsinhalte und die Methoden der Darstellung
der Poesie und bildenden Kunst zu trennen, daß er aus Zwängen der Systemati-
sierung die Künste und ihre Produktionsweise in eine Opposition bringt, in der
schöpferische Fähigkeiten allein dem Dichter zugestanden werden. Diese Fähigkeit
ist eine poetische, eine sprachschöpferische Fähigkeit. In den Entwürfen und im
Brief an Nicolai ist es die Fähigkeit, den willkürlichen Zeichen die "Kraft" der
natürlichen Zeichen zu verleihen oder die willkürlichen Zeichen zu natürlichen
Zeichen von willkürlichen Dingen zu machen. Im "Laokoon" sind es das

19 Lessing, Bd. V, S. 297 f.

20 Lessing, Bd. IX, S. 318 ff.
 
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