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Kandinsky, Wassily
Über das Geistige in der Kunst: insbesondere in der Malerei ; mit acht Tafeln und zehn Originalholzschnitten — München, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.27758#0020
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ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST

gleicht den Nachahmungen der Affen. Äußerlich sind die Bewegungen
des Affen den menschlichen vollständig gleich. Der Affe sitzt und
hält ein Buch vor die Nase, blättert darin, macht ein bedenkliches Ge-
sicht, aber der innere Sinn dieser Bewegungen fehlt vollständig.
Es gibt aber eine andere äußere Ähnlichkeit der Kunstformen,
der eine große Notwendigkeit zugrunde liegt. Die Ähnlichkeit
der inneren Bestrebungen in der ganzen moralisch-geistigen
Atmosphäre, das Streben zu Zielen, die im Hauptgründe schon
verfolgt, aber später vergessen wurden, also die Ähnlichkeit der
inneren Stimmung einer ganzen Periode kann logisch zur Anwendung
der Formen führen, die erfolgreich in einer vergangenen Periode den-
selben Bestrebungen dienten. So entstand teilweise unsere Sympathie,
unser Verständnis, unsere innere Verwandtschaft mit den Primitiven.
Ebenso wie wir, suchten diese reinen Künstler nur das Innerlich-
Wesentliche in ihren Werken zu bringen, wobei der Verzicht auf
äußerliche Zufälligkeit von selbst entstand.
Dieser wichtige innere Berührungspunkt ist aber bei seiner ganzen
Wichtigkeit doch nur ein Punkt. Unsere Seele, die nach der langen
materialistischen Periode erst im Anfang des Erwachens ist, birgt
in sich Keime der Verzweiflung des Nichtglaubens, des Ziel- und
Zwecklosen. Der ganze Alpdruck der materialistischen Anschauungen,
welche aus dem Leben des Weltalls ein böses zweckloses Spiel gemacht
haben, ist noch nicht vorbei. Die erwachende Seele ist noch stark unter
dem Eindruck dieses Alpdruckes. Nur ein schwaches Licht dämmert
wie ein winziges Pünktchen in einem enormen Kreis des Schwarzen.
Dieses schwache Licht ist bloß eine Ahnung, welches zu sehen die
 
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