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Kandinsky, Wassily
Über das Geistige in der Kunst: insbesondere in der Malerei ; mit acht Tafeln und zehn Originalholzschnitten — München, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.27758#0066
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OBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST

Seele geschlossen bleibt. Ebenso wie man bei Berührung von Eis
nur das Gefühl einer physischen Kälte erleben kann und dieses Gefühl
nach dem Wiedererwärmen des Fingers vergißt, so wird auch die
physische Wirkung der Farbe vergessen, wenn das Auge abgewendet
wird. Und ebenso, wie das physische Gefühl der Kälte des Eises, wenn
es tiefer eindringt, andere tiefere Gefühle erweckt und eine ganze
Kette psychischer Erlebnisse bilden kann, so kann auch der oberfläch-
liche Eindruck der Farbe sich zu einem Erlebnis entwickeln.
Nur die gewohnten Gegenstände wirken bei einem mittelmäßig
empfindlichen Menschen ganz oberflächlich. Die aber, die uns zum
erstenmal begegnen, üben sofort einen seelischen Eindruck auf uns
aus. So empfindet die Welt das Kind, welchem jeder Gegenstand neu
ist. Es sieht das Licht, wird dadurch angezogen, will es fassen, ver-
brennt sich den Finger und bekommt Angst und Respekt vor der
Flamme. Dann lernt es, daß das Licht außer feindlichen Seiten auch
freundliche hat, daß es die Dunkelheit verscheucht, den Tag ver-
längert, daß es wärmen, kochen und lustiges Schauspiel bieten kann.
Nach der Sammlung dieser Erfahrungen ist die Bekanntschaft mit dem
Lichte gemacht und die Kenntnisse über dasselbe werden im Gehirn
aufgespeichert. Das stark intensive Interesse verschwindet, und
die Eigenschaft der Flamme, ein Schauspiel zu bieten, kämpft mit
voller Gleichgültigkeit gegen sie. Allmählich wird auf diesem Wege
die Welt entzaubert. Man weiß, daß Bäume Schatten geben, daß
Pferde schnell laufen können und Automobile noch schneller, daß Hunde
beißen, daß der Mond weit ist, daß der Mensch im Spiegel kein
echter ist.
 
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