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Kandinsky, Wassily
Über das Geistige in der Kunst: insbesondere in der Malerei ; mit acht Tafeln und zehn Originalholzschnitten — München, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.27758#0158
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ÜBER DAS GEISTIGE IN DER KUNST

eines anderen mitspielenden Gesetzes, welches aber schließlich immer
bis jetzt dem ersten Entwicklungsgesetz unterlag. So sind diese Ab-
weichungen hier nicht maßgebend.
Wenn man in der melodischen Komposition das Gegen-
ständliche entfernt und dadurch die im Grunde liegende malerische
Form entblößt, so findet man primitive geometrische Formen oder die
Aufstellung einfacher Linien, die einer allgemeinen Bewegung dienen.
Diese allgemeine Bewegung wiederholt sich in einzelnen Teilen und
wird manchmal durch einzelne Linien oder Formen variiert. Diese ein-
zelnen Linien oder Formen dienen in diesem letzten Falle verschie-
denen Zwecken. Sie bilden z. B. eine Art Abschluß, welchem ich den
musikalischen Namen „fermata“ gebe1). Alle diese konstruktiven
Formen haben einen einfachen inneren Klang, welchen auch jede Me-
lodie hat. Deswegen nenne ich sie die melodischen. Durch Cezanne
und später Hodler zum neuen Leben geweckt, bekamen diese melo-
dischen Kompositionen zu unserer Zeit die Bezeichnung der rhythmi-
schen. Das war der Kern der Wiedergeburt der kompositionellen
Ziele. Daß die Beschränkung des Begriffes „rhythmisch“ auf ausschließ-
lich diese Fälle zu eng ist, ist auf den ersten Blick klar. Ebenso wie
in der Musik jede Konstruktion einen eigenen Rhythmus besitzt,
ebenso wie in der ganz „zufälligen“ Verteilung der Dinge in der Natur
auch jedesmal ein Rhythmus vorliegt, so auch in der Malerei. Nur
ist ki der Natur dieser Rhythmus uns manchmal nicht klar, da uns seine
l) Siehe z. B. das Mosaik in Ravenna, welches in der Hauptgruppe ein
Dreieck bildet. Zu diesem Dreieck neigen sich immer weniger bemerklich die
übrigen Figuren. Der ausgestreckte Arm und der Türvorhang bilden die fermata.
 
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