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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 11.1895-1896

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Riegel, Herman: Die Betrachtung der Kunstwerke, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.12003#0215
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Herinan Riegel. Die Betrachtung der Kunstwerke.

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endlich würde man auch mit den Gemälden beginnen.
Hier ist nun eine unmittelbar im Wege liegende Klippe
vorsichtig zu umgehen. Man muß nämlich berücksichtigen,
daß die niederländischen Gattungsbilder und Landschaften
dem modernen Verständnis ungleich näher liegen, als die
klassischen Italiener und die älteren Deutschen. Man
würde also, wenn man in eine Gemäldesammlung tritt
und nur dem natürlichen Antriebe folgt, sich wohl meistens
jenen Werken zuerst zuwenden, aber man würde hier-
durch sich zugleich rückwärts den Weg, der zum Ver-
ständnis der älteren Bilder führt, erschweren. Deshalb
beachte man den Gang der geschichtlichen Entwickelung,
wenn auch nicht gerade immer in strenger Folge. Man
beginne etwa bei den großen Italienern, und lehne sich,
wenn das Auge nicht selbst schon geübter ist, an eine
Anleitung, welche die Hauptwerke erläutert. Man be-
schäftige sich eingehend und tief mit einigen der Meister-
werke in der Sammlung, wo man gerade die ersten
Studien macht, doch wähle man hierzu, wie gesagt,
Italiener, die zu diesem Zwecke der größeren Formen-
reinheit und Idealität wegen den Vorzug verdienen.
Dann gehe man zu noch älteren Bildern, den Altitalienern
und Deutschen, zurück und bemühe sich eifrig, durch die
harte Schale ihrer unvollkommeneren Form zum gehalt-
reichen, geistigen Kern durchzudringen. Man wende sich
endlich zu den späteren Niederländern und den Modernen.
„In der Kenntnis der Kunst", äußert sich sehr richtig
G. F. Waagen, „kommt es nämlich besonders darauf
an, sich zuerst gewisse Haupteindrücke fest anzueignen.

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Ad. Gebbart fec.

Erst daun wird man ein Interesse und ein Verständnis
für Meister (oder Werke) von minderer Bedeutung ge-
winnen, welche, wenn man sie auf den ersten Anlauf
mit in den Kreis seiner Betrachtungen ziehen will, nur
zerstreuend, ja verwirrend einwirken und dadurch leicht
die Freude an dem ganzen Studium verleiden".

Nur das wahre und volle Verständnis der Antike
giebt Gefühl und Begriff von Formenreinheit, Maß
und Idealität, nur das lebendige Eindringen in das
Wesen der Baukunst und deren strenger Gesetzmäßigkeit
bildet den Sinn für Ordnung und Gesetz aus, ohne die
es auch in der Kunst schlecht aussieht. Geht man von
Gesetz und Ordnung ab, so nistet sich an deren Stelle
in Gestalt der Regel die Willkür und die Mode fest,
oder der Naturalismus tritt, Gesetz und Ordnung ge-
radezu verneinend, mit der Irrlehre auf, daß die Kunst
in der bloßen Naturnachahmung ihre Aufgabe erschöpfe.
Wollte man seine Kunststudien auf naturalistischen Werken
gründen, so hieße das so viel wie das Pferd beim
Schwänze aus dem Stalle ziehen.

Es sei hier eine nicht genug zu beherzigende Stelle
aus Winckelmanns Geschichte der alten Kunst (I. Teil
IV. Kap. 2. Abschn.) angeführt. Sie lautet: „Ich füge
dieser Betrachtung über die Schönheit einige Erinne-
rungen bei, welche jungen Anfängern und Reisenden in
Betrachtung griechischer Figuren dienen können. Tie
erste ist: Suche nicht die Mängel und Unvollkommen-
heiten in den Werken der Kunst zu entdecken, bevor du
das Schöne erkennen und finden gelernt. Diese Er-
innerung gründet sich auf eine tägliche Erfahrung; und
den mehrsten, die die Gestalt sehen können, aber das
 
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