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Zur Korrektur der Gattungshierarchie
Das Bild weist eine ganze Reihe von zum Teil recht störenden Fehlern auf. So ist
der rechts von Marc-Aurel stehende, im Profil gezeigte Senator zwar auf den Kaiser
ausgerichtet, vergegenwärtigt man sich indes die räumliche Situation, so wird deut-
lich, daß er an diesem vorbeischaut. Das kleine Kind links im Vordergrund, das sich
an seiner toten(?) Mutter festhält und zu dem Protagonisten der Szene emporblickt,
erinnert mehr an einen feisten Putto als an ein Kind während einer Hungersnot. Das
niedersinkende Mädchen scheint zwar ziemlich entkräftet zu sein, wirkt aber höl-
zern. Diderot wies zudem auf die Unstimmigkeit hin, daß die Eltern und derjunge
durch die Kleidung als Bauern gekennzeichnet seien, das Mädchen jedoch einer
anderen Schicht angehöre434. Der Ausdruck von Mutter und Tochter ist schemati-
siert, stereotyp. Er wird der Situation kaum gerecht und überzeugt nicht. Auch sind
anatomische Unkorrektheiten zu bemerken, zum Beispiel bei dem linken Arm des
Vaters, mit dem er seine Tochter zu halten versucht.
Besonders unbefriedigend ist die Darstellung des Marc-Aurel, da sie der zentralen
Bedeutung dieser Person nicht genügt. Es gelingt mit ihrer Hilfe nicht, Aufschluß
über den Handlungsablauf zu erhalten, im Gegenteil: Dieser wird eher verunklärt.
So ist die Gruppe des Marc-Aurel und der Senatoren zu seiner Linken in sich nicht
stimmig. Der erstaunte und erwartungsvolle Blick der beiden alten Männer, die nach
Diderot mehr an Apostel als an Senatoren erinnern, verlangt auf Seiten des Kaisers
nach einer Aktion, nach einer emotionalen Äußerung.Jedoch rechtfertigt nichts im
Verhalten des Herrschers den Ausdruck der Senatoren. Noch störender wird ein
Mangel empfunden, der ebenfalls, zumindest zu einem wesentlichen Teil, auf eine
fehlerhafte Darstellung des Protagonisten zurückzuführen ist: Es gelang Vien nicht,
einen inneren Zusammenhang zwischen Marc-Aurel und seinem Verhalten und der
im Vordergrund so deutlich hervorgehobenen Gruppe beziehungsweise dem nieder-
gesunkenen Mädchen herzustellen. Der Kaiser zeigt keine (emotionale) Reaktion
auf das Leid, das sich zu seinen Füßen abspielt. Auch wenn hier auf Marc-Aurels
stoische Weltanschauung angespielt sein mag, so bemerkt er doch nicht das, was dem
Betrachter sofort ins Auge springt. Damit scheint sein Verhalten, das Thema dieser
Komposition ist, innerbildlicli nicht begründet. Andererseits nimmt aber auch die
Gruppe des Mädchens mit ihren Angehörigen keinen Bezug auf den Wohltäter. Vien
wollte offensichtlich die Familie im Vordergrund und den Herrscher aufeinander
beziehen, konnte sich jedoch nicht entschließen, die >Repräsentanten des Volkes;
besonders die beiden ausdrucksbeladenen Frauen vom Betrachter abzuwenden und
auf Marc-Aurel auszurichten. Die Figuren agieren nicht miteinander. So zerfällt die
Komposition. Der linke, auf Mutter und Tochter weisende Arm des Kaisers genügt
nicht, um eine Verbindung herzustellen.
Der Fehler der Figur des Marc-Aurel, die hier besonders interessiert, liegt darin,
daß sie keine Leidenschaften aufweist. Vien bemühte sich deutlich, dem Herrscher -
434 Diderot, op.cit. (Anm. 208), Bd. 2, S. 88.
Zur Korrektur der Gattungshierarchie
Das Bild weist eine ganze Reihe von zum Teil recht störenden Fehlern auf. So ist
der rechts von Marc-Aurel stehende, im Profil gezeigte Senator zwar auf den Kaiser
ausgerichtet, vergegenwärtigt man sich indes die räumliche Situation, so wird deut-
lich, daß er an diesem vorbeischaut. Das kleine Kind links im Vordergrund, das sich
an seiner toten(?) Mutter festhält und zu dem Protagonisten der Szene emporblickt,
erinnert mehr an einen feisten Putto als an ein Kind während einer Hungersnot. Das
niedersinkende Mädchen scheint zwar ziemlich entkräftet zu sein, wirkt aber höl-
zern. Diderot wies zudem auf die Unstimmigkeit hin, daß die Eltern und derjunge
durch die Kleidung als Bauern gekennzeichnet seien, das Mädchen jedoch einer
anderen Schicht angehöre434. Der Ausdruck von Mutter und Tochter ist schemati-
siert, stereotyp. Er wird der Situation kaum gerecht und überzeugt nicht. Auch sind
anatomische Unkorrektheiten zu bemerken, zum Beispiel bei dem linken Arm des
Vaters, mit dem er seine Tochter zu halten versucht.
Besonders unbefriedigend ist die Darstellung des Marc-Aurel, da sie der zentralen
Bedeutung dieser Person nicht genügt. Es gelingt mit ihrer Hilfe nicht, Aufschluß
über den Handlungsablauf zu erhalten, im Gegenteil: Dieser wird eher verunklärt.
So ist die Gruppe des Marc-Aurel und der Senatoren zu seiner Linken in sich nicht
stimmig. Der erstaunte und erwartungsvolle Blick der beiden alten Männer, die nach
Diderot mehr an Apostel als an Senatoren erinnern, verlangt auf Seiten des Kaisers
nach einer Aktion, nach einer emotionalen Äußerung.Jedoch rechtfertigt nichts im
Verhalten des Herrschers den Ausdruck der Senatoren. Noch störender wird ein
Mangel empfunden, der ebenfalls, zumindest zu einem wesentlichen Teil, auf eine
fehlerhafte Darstellung des Protagonisten zurückzuführen ist: Es gelang Vien nicht,
einen inneren Zusammenhang zwischen Marc-Aurel und seinem Verhalten und der
im Vordergrund so deutlich hervorgehobenen Gruppe beziehungsweise dem nieder-
gesunkenen Mädchen herzustellen. Der Kaiser zeigt keine (emotionale) Reaktion
auf das Leid, das sich zu seinen Füßen abspielt. Auch wenn hier auf Marc-Aurels
stoische Weltanschauung angespielt sein mag, so bemerkt er doch nicht das, was dem
Betrachter sofort ins Auge springt. Damit scheint sein Verhalten, das Thema dieser
Komposition ist, innerbildlicli nicht begründet. Andererseits nimmt aber auch die
Gruppe des Mädchens mit ihren Angehörigen keinen Bezug auf den Wohltäter. Vien
wollte offensichtlich die Familie im Vordergrund und den Herrscher aufeinander
beziehen, konnte sich jedoch nicht entschließen, die >Repräsentanten des Volkes;
besonders die beiden ausdrucksbeladenen Frauen vom Betrachter abzuwenden und
auf Marc-Aurel auszurichten. Die Figuren agieren nicht miteinander. So zerfällt die
Komposition. Der linke, auf Mutter und Tochter weisende Arm des Kaisers genügt
nicht, um eine Verbindung herzustellen.
Der Fehler der Figur des Marc-Aurel, die hier besonders interessiert, liegt darin,
daß sie keine Leidenschaften aufweist. Vien bemühte sich deutlich, dem Herrscher -
434 Diderot, op.cit. (Anm. 208), Bd. 2, S. 88.