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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 1.1902-1903

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Hannover, Emil: Die Seele Giorgiones
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https://doi.org/10.11588/diglit.3547#0352
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handlung sein kann, das wohl an Lionardo
gemahnen mag, und ebenso scheint auch dessen
Porträtauffassung nicht ohne Einfhiss auf
Giorgione gewesen zu sein. Doch während
die Farbe bei Lionardo nicht allein nicht die
Hauptsache, sondern sogar kaum noch eine
Sache für sich ist, indem sie im wesentlichen
nur dazu dient, das Verhältnis zwischen Licht
und Schatten und das Clair-Obscur da-
zwischen zu veranschaulichen, ist sie bei Gior-
gione der unmittelbare Ausdruck, den er für
die Bewegungen in seinem eigenen Innern
besitzt. Während die vorhergehenden Künstler
— Giovanni Bellini jedenfalls noch in seinen

GIORGIONE, MÄNNLICHES PORTRÄT (BERLINER MUSEUM)

frühen Bildern — mühsam die Farbe in die
Zeichnung einfassten, während für sie der
Strich die Saite war, die das Echo der Wonne
oder Klage ihrer Herzen abgab, war Giorgione
der Erste von allen, der in der Farbe das voll-
kommenere Instrument fand, das mit weit
weniger, jedenfalls weit weniger augenfälliger
Mühe sich tiefe und ausdrucksvolle Stim-
mungstüne ablocken liess. Wir wissen von
Vasari, dass sich dieses sein unmittelbares
Verhältnis zur Farbe sogar rein technisch an
den Tag legte. Vasari berichtet (in seiner
Biographie Tizians), wie es Giorgiones Ge-
wohnheit war, seine Bilder direkt auf die

Leinwand zu malen,
ohne vorhergehende
Studie oder Zeichnung.
Der alte Künstler und
Kunstgelehrte ver-
ketzert diese Methode,
die er sogar einen
Deckmantel für Gior-
giones, Palmas und
Pardenones Mangel an
zeichnerischer Be-
gabung nennt. Er, der
selbst in einer strengen
und rationellen Zei-
chenschule erzogen
worden war, hat kein
Verständnis dafür, dass
etwas von der Reso-
nanz des Klanges aus
dem eigenen Stim-
mungsleben des Künst-
lers, wie sie die Farbe
in Giorgiones Bildern
besitzt, verloren ge-
gangen sein würde,
wären sie nach Studien
statt direkt mit dem
Pinsel auf die Lein-
wand gemalt worden.
Mehrere dieserBilder
wirken auf das Gemüt
wie Lieder ohne Worte
und haben keinen
deutlicheren Sinn, als

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