ZWEITES KAPITEL.
Eine antike Stadt.
Plan der Stadt Pompeji — Unterschied einer antiken und einer modernen Stadt — die vier Hauptlinien — die beiden
Decumani und die beiden Cardines — Mauern und Thore — Plätze und Strassen — Tempel und Basiliken — Häuser,
Läden, Fabriken — die öffentlichen Bäder —■■ Theater und Amphitheater — Wirthshäuser und Restaurants — die Friedhöfe.
I.
Nichts ist reizender auf Reisen als die Ankunft in einer fremden Stadt, in der wir’s uns gefallen
lassen wollen. Die alte abgeschmackte Welt erfrischt sich: das Leben und Treiben der Menschen
erscheint uns als ein Märchen; mit der Neugierde eines Kindes sehen wir in jeden Laden, in jede
Wirthsstube und zu jeder Hausthüre hinein. Es ist, als müsste hier Alles anders sein. Eine kleine
Weile hält der Zauber vor, dann verliert er seine Kraft. Und zwar nicht nur, weil wir uns
allmählich eingewöhnen" und das Neue aufhört uns neu zu sein — ach nein, noch aus einem
andern Grunde. Wir haben uns durch den veränderten Schauplatz täuschen lassen, im Grunde
war ja doch Alles wie bei uns. Das kleine, grosse, niedrige, erhabene, komische, tragische Spiel
des Lebens wiederholt sich überall, und je länger wir reisen, um so mehr überzeugen wir uns,
dass die Nuancen nur unbedeutend sind, die von Volk zu Volk und von Himmelsstrich zu
Himmelsstrich obwalten. Da gibt es dieselben Armen und dieselben Reichen, dieselben Handwerker
und dieselben Beamten, dieselben Stände, dieselben Geschlechter, dieselben Lebensalter, dieselben
Leidenschaften, dasselbe Glück und Unglück. Tutto il mondo e paese, sagt der Italiener, denn
Mensch bleibt Mensch, und Race, Zeit und Klima bringen viel weniger Unterschiede hervor, als
der Unerfahrene annimmt, nur muss man sich hüten, nicht Kinder und Greise, Natur- und Kultur-
völker unter einander zu vergleichen. Nicht einmal äusserlich ist der Abstand zwischen den
einzelnen Typen überraschend: man begegnet z. B. in Italien nicht selten den deutschesten
Gesichtern, und wenn man dies auch aus der factischen Einmischung germanischen Blutes erklären
mag, so braucht man sich doch nur gelegentlich einen Mongolen oder einen Indianer anzusehen
und zu fragen, ob dieselben so sehr auffallen würden, wenn sie in unsern Kleidern durch die
Strassen gingen.
Es gibt, meine ich, zwei Methoden, Menschen und Völker zu betrachten — auf ihre
Gleichheit hin und auf ihre Unterschiede hin; beide Methoden müssen sich gewissermassen einander
die Wage halten. Ich will die ungeheure Unähnlichkeit, die man zwischen einem chinesischen
Mandarin und einem Berliner Geheimrath herausfinden kann, nicht verwischen; ich möchte
dem nur auch ihre ungeheure Aehnlichkeit entgegenstellen. Und ich betone die letztere, weil man
im Allgemeinen dazu neigt, auf jene ein grösseres Gewicht zu legen als auf diese.
Du stellst Dir wohl vor, lieber Leser, eine ganz besondere, ganz eigenartige Stadt zu
finden, wenn Du, vom Bahnhof kommend, an das Hotel Diomede gelangt bist und durch die Porta
Marina Pompeji betrittst. Aber ich glaube, du wirst Pompeji besser verstehen und einen grösseren
Gewinn von Deiner Wanderung haben, wenn Du Dir vorstellst, dieses Pompeji sei wie jede andere
Stadt. Zunächst wie jede andere Stadt des Alterthums. Du bist in Rom gewesen und hast
daselbst das Forum, die Via Sacra, das Kolosseum, die Thermen des Caracalla und das Haus
der Livia gesehn. Alles das findet sich in kleinerem Massstabe in Pompeji wieder, nur dass es
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Eine antike Stadt.
Plan der Stadt Pompeji — Unterschied einer antiken und einer modernen Stadt — die vier Hauptlinien — die beiden
Decumani und die beiden Cardines — Mauern und Thore — Plätze und Strassen — Tempel und Basiliken — Häuser,
Läden, Fabriken — die öffentlichen Bäder —■■ Theater und Amphitheater — Wirthshäuser und Restaurants — die Friedhöfe.
I.
Nichts ist reizender auf Reisen als die Ankunft in einer fremden Stadt, in der wir’s uns gefallen
lassen wollen. Die alte abgeschmackte Welt erfrischt sich: das Leben und Treiben der Menschen
erscheint uns als ein Märchen; mit der Neugierde eines Kindes sehen wir in jeden Laden, in jede
Wirthsstube und zu jeder Hausthüre hinein. Es ist, als müsste hier Alles anders sein. Eine kleine
Weile hält der Zauber vor, dann verliert er seine Kraft. Und zwar nicht nur, weil wir uns
allmählich eingewöhnen" und das Neue aufhört uns neu zu sein — ach nein, noch aus einem
andern Grunde. Wir haben uns durch den veränderten Schauplatz täuschen lassen, im Grunde
war ja doch Alles wie bei uns. Das kleine, grosse, niedrige, erhabene, komische, tragische Spiel
des Lebens wiederholt sich überall, und je länger wir reisen, um so mehr überzeugen wir uns,
dass die Nuancen nur unbedeutend sind, die von Volk zu Volk und von Himmelsstrich zu
Himmelsstrich obwalten. Da gibt es dieselben Armen und dieselben Reichen, dieselben Handwerker
und dieselben Beamten, dieselben Stände, dieselben Geschlechter, dieselben Lebensalter, dieselben
Leidenschaften, dasselbe Glück und Unglück. Tutto il mondo e paese, sagt der Italiener, denn
Mensch bleibt Mensch, und Race, Zeit und Klima bringen viel weniger Unterschiede hervor, als
der Unerfahrene annimmt, nur muss man sich hüten, nicht Kinder und Greise, Natur- und Kultur-
völker unter einander zu vergleichen. Nicht einmal äusserlich ist der Abstand zwischen den
einzelnen Typen überraschend: man begegnet z. B. in Italien nicht selten den deutschesten
Gesichtern, und wenn man dies auch aus der factischen Einmischung germanischen Blutes erklären
mag, so braucht man sich doch nur gelegentlich einen Mongolen oder einen Indianer anzusehen
und zu fragen, ob dieselben so sehr auffallen würden, wenn sie in unsern Kleidern durch die
Strassen gingen.
Es gibt, meine ich, zwei Methoden, Menschen und Völker zu betrachten — auf ihre
Gleichheit hin und auf ihre Unterschiede hin; beide Methoden müssen sich gewissermassen einander
die Wage halten. Ich will die ungeheure Unähnlichkeit, die man zwischen einem chinesischen
Mandarin und einem Berliner Geheimrath herausfinden kann, nicht verwischen; ich möchte
dem nur auch ihre ungeheure Aehnlichkeit entgegenstellen. Und ich betone die letztere, weil man
im Allgemeinen dazu neigt, auf jene ein grösseres Gewicht zu legen als auf diese.
Du stellst Dir wohl vor, lieber Leser, eine ganz besondere, ganz eigenartige Stadt zu
finden, wenn Du, vom Bahnhof kommend, an das Hotel Diomede gelangt bist und durch die Porta
Marina Pompeji betrittst. Aber ich glaube, du wirst Pompeji besser verstehen und einen grösseren
Gewinn von Deiner Wanderung haben, wenn Du Dir vorstellst, dieses Pompeji sei wie jede andere
Stadt. Zunächst wie jede andere Stadt des Alterthums. Du bist in Rom gewesen und hast
daselbst das Forum, die Via Sacra, das Kolosseum, die Thermen des Caracalla und das Haus
der Livia gesehn. Alles das findet sich in kleinerem Massstabe in Pompeji wieder, nur dass es
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