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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung I
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Schiller, Otto: Das ästhetische Erleben als die einfachste Art des Erlebens von maximaler Intensität
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0130
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124

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Otto Schiller:
Das ästhetische Erleben als die einfachste Art des
Erlebens von maximaler Intensität1)
1. Unsere Erlebnisse sind von verschiedener Intensität: mehr oder
weniger Leben, Lebendigkeit kann in ihnen enthalten sein. Alle unsere
Erlebnisse vermindern unsere Lebenskräfte; müssen wir uns doch beständig
restituieren, solange wir leben und am Leben bleiben wollen. Wir dürfen
ein Erlebnis um so intensiver nennen, je mehr es von unseren Lebenskräften
konsumiert. Die Intensität unserer Erlebnisse ist gleich Null, wenn wir
aufhören zu leben, d. h. im Tode.
Gleichwohl gibt es im Leben selbst einen Zustand, in dem unsere
Lebenskräfte fast gar nicht verbraucht werden; einen Zustand, in dem zwar
unsere Lebenskräfte in minimalem Maße abnehmen, in dem jedoch weit
stärker und in charakteristischer Weise der entgegengesetzte Prozeß der
Restituierung der konsumierten Lebenskräfte einsetzt. Dieser Zustand ist
bekanntlich der Zustand des Schlafes. Tod und Schlaf sind nur dadurch
von einander unterschieden, daß in uns, während wir schlafen, sich doch
gewisse wiederherstellende, aufbauende Prozesse abspielen.
Dies ist nun gerade vom Standpunkte der Intensität, der Lebendigkeit des
Erlebens ein nebensächliches Moment, denn die Lebensintensität richtet
sich nach der Quantität der verbrauchten Lebenskräfte.
2. Werfen wir jetzt ganz allgemein die folgende Frage auf:
Welches ist das denkbar intensivste Erleben eines bestimmten Objektes, z. B.
eines Rot?2)
Aus dem unter I Gesagten ist klar, daß wir das Rot am intensivsten
erleben werden, wenn wir uns jedem Nichtrot-Erlebnisse verschließen, wenn
wir in bezug auf jedes Nichtrot-Erlebnis einschlafen, das Nichts in uns
schaffen, dagegen in positiver Richtung mit unserer gesamten Lebens-

1) Der Vortrag konnte aus äußeren Gründen nicht gehalten werden.
2) Unter Objekt verstehe ich nicht einen singulären Gegenstand im Sinne
der alltäglichen Sprache. Ich verstehe darunter einen homogenen Reiz, der
nur eine Qualität besitzt, der also im ganzen Organismus zusammengehörende,
durch eine höhere Einheit bestimmte Prozesse hervorruft, z. B. die dem Erleben
des Rot in den verschiedenen Teilen des Organismus entsprechenden Prozesse.
 
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