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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung I
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Lalo, Charles: Programm einer soziologischen Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0129

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Lalo, Programm einer soziologischen Ästhetik, Diskussion

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man fragen, ob ein solches System eine „soziologische Ästhetik“ genannt werden
kann. Dieser Begriff im strengen Sinne scheint mir ergiebiger zu sein.
Vom geschichtlichen Gesichtspunkte aus glaube ich wohl mit Herrn K. Wize,
daß eine deutsche soziologische Ästhetik wahrscheinlich eben so wenig existiert,
wie eine echt französische; denn die Ästhetik ist ja eine Wissenschaft von der
Kunst, nicht aber eine Kunst, also weder in demselben Grade, noch in derselben
Gattung eine soziale Tatsache. Hier sei nur hinzugefügt, daß bei den heutigen
französischen Soziologen mindestens zwei Hauptrichtungen zu herrschen scheinen.
Die erste ist eine wesentlich individualistische Tendenz, und war besonders von
Guyau und Tarde vertreten, deren Begriffe der Lebensintensität und der sozialen
Nachahmung nicht ganz verschieden von der soziologischen Einfühlungstheorie
des Herrn Wize sind. In der Hauptsache folge ich der zweiten Richtung, welche
von dem Positivismus Comtes und von dem echten „Soziologismus“, so wie ihn
Dürkheims „Annee sociologique“ vertritt, stark beeinflußt ist.
Mit den beiden letzteren Schulen stelle ich bei der Soziologie und bei den
sozialen Tatsachen einen spezifischen Charakter fest. Ihren Grundtendenzen
gegenüber wünsche ich aber, einerseits der individuellen Psychologie einen
größeren Platz einzuräumen, andererseits innerhalb dieser spezifischen
Soziologie eine spezifische Ästhetik zu gründen, d. h. eine
Ästhetik mit relativ autonomen Gesetzen und Werten, die aber wiederum insofern
echt soziologisch bleiben, als sie kollektiv begründet werden.
Wenn man einen solchen oder ähnlichen Begriff verwirft, so kann man, um es
zu wiederholen, nur eine Soziologie ohne Ästhetik, oder eine Ästhetik ohne
Soziologie haben, aber keine „ästhetische Soziologie“. Die kritischen Änderungen,
welche Herr Deri und selbst Herr Wize vorgeschlagen haben, nenne
ich also eher eine Einschränkung oder selbst Verneinung der soziologischen
Ästhetik als eine Verbesserung und Ergänzung derselben.
 
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