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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung IV
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Schering, Arnold: Zur Grundlegung der musikalischen Hermeneutik
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0496

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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Arnold Schering:
Zur Grundlegung der musikalischen Hermeneutik
Der Begriff der musikalischen Auslegekunst ist alt und reicht, von
primitiven Anfängen abgesehen, bis mindestens ins lö. Jahrhundert zurück.
Ihn als Teil der praktischen Musikästhetik unter dem der Theologie ent-
lehnten Namen Hermeneutik wieder in den Vordergrund gerückt zu haben,
ist das Verdienst Hermann Kretzschmars, der in den Jahrbüchern der
Musikbibliothek Peters 1902 und 1905 Vorschläge und Anregungen gab,
diese „Kunst“ weiter auszubauen. Die musikalische Hermeneutik kann
zunächst als eine vorbereitende, propädeutische Betrachtungsweise auf-
gefaßt werden, da ihr Endzweck darin besteht, die im Tonwerk zur
Erscheinung kommenden ästhetischen Ideen vorbereitend dem Hörer in
denkbar größter Fülle und Plastik zum Bewußtsein zu bringen und damit
dem Genießenden möglichst große psychische Resonanz zu verschaffen.
Dies würde ihr praktischer Zweck sein, der sie in unmittelbare Ver-
bindung mit der praktischen Musiklehre bringt. Indessen hat auch die
reine, nicht angewandte Ästhetik Interesse an ihr. Denn die Grundlage
hermeneutischer Betrachtung bildet die Frage nach der inneren Verwandt-
schaft der Tonvorgänge mit den Vorgängen unseres Seelenlebens und
darüber hinaus die Frage, inwieweit sich auch in der Musik ein über aller
Erfahrung Stehendes abspiegelt. Es mag in Kürze zusammengefaßt werden,
worin die Beziehungen der musikalischen Hermeneutik zur allgemeinen
Ästhetik bestehen.
Das musikalische Kunstwerk, das als eine Folge zusammenhängender
Klänge an unserem Ohre vorüberzieht, läßt sich kaum anders als unter
dem Bilde eines bewegten Organismus vorstellen, eines Ton- oder
Klangorganismus, der von innen heraus belebt erscheint und vor unserem
geistigen Auge (d. h. in der Phantasie) gleichsam hervorwächst, sich schritt-
weis, taktweis entfaltet wie eine aufblühende Pflanze. Diese Entwicklung
geschieht nicht willkürlich, sondern nach bestimmten konstruktiven
Gesetzen, die in den Tönen selbst latent liegen. Zum Bilde eines belebten
Organismus kommen wir dadurch, daß wir uns ihn mit inneren Triebkräften
ausgestattet denken: wir meinen einem ungeheuren System sich aus-
wirkender Kräfte dynamischer, rhythmischer, melodischer, harmonischer
Natur gegenüberzustehen, die Takt für Takt mit- und gegen einander
 
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