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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung I
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Geiger, Moritz: Das Problem der ästhetischen Scheingefühle
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0197

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Geiger, Das Problem der ästhetischen Scheingefühle

191

9. Oktober, nachmittags 3 Uhr
Verhandlungsleiter: Herr Elsenhans
Moritz Geiger:
Das Problem der ästhetischen Scheingefühle
Eine ganze Reihe von Ästhetikern, wie Kirchmann, Fr. Th. Vischer,
Hartmann und Moos, Witasek und Konrad Lange, stellen den Begriff des
ästhetischen Scheingefühls teils in den Mittelpunkt der ästhetischen Theorie,
teils sehen sie in diesen Scheingefühlen wichtige Bestandteile des ästhe-
tischen Erlebens; ja, Basch hat sogar zu zeigen versucht, daß diese An-
schauungen schon in Kants „interesselosem Wohlgefallen“ vorgebildet
sind. Andere wieder, wie Volkelt, nehmen eine vermittelnde Stellung ein,
während die meisten Ästhetiker, die, wie Lipps, von der Psychologie
herkommen, den Begriff des Scheingefühls von vornherein ablehnen.
Es sind erkenntnistheoretische Fragen, Fragen der ästhetischen und
der psychologischen Theorie, ja sogar des Metaphysischen, die in das
Problem der ästhetischen Scheingefühle hineinspielen. Es soll hier jedoch
von all diesen Problemverschlingungen abgesehen und einzig die Frage
in ihrer Tatsächlichkeit diskutiert werden: Gibt es ästhetische
Scheingefühle?
Es sind in der Literatur im allgemeinen vier Gruppen von Erlebnissen,
die für die ästhetischen Scheingefühle in Anspruch genommen zu werden
pflegen:
1. Das Erleben des Schauspielers, der die Wut und Verzweiflung König
Lears spielt, so sagen die Anhänger der Scheingefühle, sei kein wirkliches
Erleben. Zum mindesten gelte dies für jene Art von Schauspielern, die wie
Coquelin während ihres Spiels das Bewußtsein nicht verlieren, daß sie
spielen.
2. Durch die Stimmung eines Romans, eines Dramas, eines Musik-
stückes, eines Landschaftsgemäldes, durch die über diese Gegenstände
gelagerte Sehnsucht, Jubel oder Traurigkeit werden wir in Stimmungen
versetzt, die jenen Stimmungscharakteren der Gegenstände entsprechen.
Aber diese in uns „induzierten“ Stimmungen sind keine wirklichen Stimmun-
gen; wir sind nicht wirklich traurig, es sind bloße Scheinstimmungen.
3. Es gibt nicht nur „induzierte“ Stimmungen, sondern ich reagiere
auch selbsttätig auf die Vorgänge auf der Bühne, die Geschehnisse im
 
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