Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

DOI Heft:
Abteilung II
DOI Artikel:
Worringer, Wilhelm: Entstehung und Gestaltungsprinzipien in der Ornamentik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0228

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
222

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Wilhelm Worringer:
Entstehung und Gestaltungsprinzipien in der Ornamentik *)
Jede Erörterung über das in Frage stehende Thema muß meines
Erachtens mit dem Bekenntnis beginnen, daß es vorläufig noch unmöglich
ist, etwas Abschließendes zu sagen. Der Umfang und die Mannigfaltigkeit
des Materials stehen noch in keinem Verhältnis zu den wenigen und in sich
nicht sehr gefestigten Orientierungspunkten, die man zu schaffen versucht.
Ja, es fragt sich angesichts der nicht unbegründeten Zweifel an der
generellen Einheit der verschiedenen Kunstphänomene, ob wir überhaupt
von Ornamentik schlechthin wie von einem feststehenden und abgegrenzten
Begriff sprechen dürfen. Jedenfalls ist vorläufig an eine methodische Bewäl-
tigung des so ungeheuer differenzierten Gesamtmaterials noch nicht zu
denken. Die Aufgabe kann nur die sein, die alten Orientierungsmöglich-
keiten zu prüfen und zur Ergänzung eventuell neue Orientierungs-
möglichkeiten zur praktischen Prüfung in Vorschlag zu bringen. Die
Gedanken, die ich, von solchen Gesichtspunkten aus, entwickeln werde,
wollen also nur als heuristische Prinzipien, nicht als empirische Endresultate
betrachtet werden.
Die Prüfung der alten Orientierungsmöglichkeiten setzt ein mit einer
Betrachtung der Theorien über die Entstehung des geometrischen
Ornaments, in dem ich trotz aller Einwände der Paläolithiker die Anfangs-
phase der Entwicklung zu sehen geneigt bin. Fast alle Erklärungsversuche
über die Genesis dieser geometrischen Formen bewegen sich auf derselben
durch rationalistische Erwägungen bestimmten Linie. Entweder wird die
Technik als Erfinderin und Vermittlerin dieser Formenwelt herangezogen,
oder man erklärt die geometrischen Formen als eine durch traditionelle
Wiederholung bewußt oder unbewußt entstandene Verschleifung oder Ver-
einfachung ursprünglich naturalistischer Gebilde. Von einer autochthonen,
aus der inneren Organisation des Menschen herausfließenden Entstehung
der geometrischen Formen zu sprechen, ist heute sozusagen verboten. Es
fragt sich, ob mit Recht. Denn jedes genauere Betasten jener rationalisti-
schen Erklärungstheorien führt zu der Feststellung, daß sie, ohne es zu
wissen, das Apriori einer ursprünglichen und unmittelbaren Hinneigung
zur geometrischen Form in sich tragen. Es kann hier aus Zeitmangel auf
diese vielverzweigte Diskussion nicht eingegangen werden. Nur so viel
kann man wohl sagen, daß die Technik in fortgeschrittenerer Ent-
wicklungsphase der Kunsttätigkeit etwas Schöpferisches bekommen kann;

L) Der Vortrag· kommt in gekürzter Fassung zum Abdruck.
 
Annotationen