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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung III
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Martersteig, Max: Illusionsbühne und Stilbühne
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0411

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Martersteig, Illusionsbühne und Stilbühne

405

Max Martersteig:
Illusionsbühne und Stilbühne
Die schlagwortartige Gegeneinanderstellung: „Illusionsbühne und Stil-
bühne“ leistet der Meinung Vorschub, es handle sich bei der Stilbühne, oder
richtiger bei der Bühne mit stilisierter Szenerie, um eine Bühne und
Bühnenkunst ohne Illusionserweckung, im Gegensatz zu der Illusionsbühne,
die ganz an der Hand des Illusionismus, wie ihn Konrad Lange als
realistisches Kunstprinzip aufgestellt hat, schüfe. Es wird schon durch die
Prägung dieser Schlagwörter das alte grundzügig gespaltene Problem der
Kunstwissenschaft aufgerollt: ob das Wegführen des Kunstbetrachters von
der Freude am Scheine nachgeahmt erreichter Wirklichkeit, die Negation
dieser Täuschung und eine dadurch erlangte neue Position anders gearteter
Kunstwerte das Wesentliche sei, oder eben die Illusionierung selbst,
die nur zu einer veredelten und gereinigten Empfindung der dargestellten
Wirklichkeit geleitet wird.
Es liegt ja auf der Hand, daß das Kunsterklärungsprinzip des „Illusionis-
mus“ ohne weitläufige Umstellung mit Einschränkungen leicht rückwärts
weist in die dunkelsten Dickichte des Naturalismus, denen unsere Zeit
doch entfliehen will. Im Grunde aber wiederholt sich bei der kritischen
Abkehr von dem Prinzip des Illusionismus nur die alte Erfahrung, daß es
unmöglich ist oder wenigstens noch keinem erlangbar war, die Kunst, den
künstlerischen Prozeß, begriffsgemäß in eine kurze, haftende These zu
prägen oder gar aus dieser ein Deckwort herauszugreifen, das den ver-
wickelten Prozeß künstlerischen Schaffens und künstlerischen Genießens
unzweideutig darlegte. Illusionismus ist ein viel zu allgemeiner, zu sehr
mit aller Wirklichkeit verflochtener Begriff, um als Trennungszeichen
zwischen Kunst und Leben, zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit dienen
zu können. Die Grenze zwischen künstlerischen Illusionierungen und denen
des gemeinen Lebens ist scharf nie zu ziehen. Denn auch alle wirklichen
Dinge außer uns erfassen wir, „als ob“ sie so wären; unsere gesamte Wahr-
nehmung der Welt ist ein Illusionismus; es kommt nur auf die Folgerungen
an, die wir, praktisch oder künstlerisch tätig, wollend oder empfangend,
daraus ziehen.
Ich glaube nun, es ist um den Illusionismus im dramatischen Kunst-
prozeß, wie ich kurz die Gesamtheit der gestaltenden Kräfte und der vom
Kunstwerk ausgehenden Wirkungen nennen will, nicht anders bestellt;
auszuschalten ist er aus diesem Prozeß nicht, weil, wie sich zeigen wird, in
diesem Prozeß Kräfte spielen, die ganz ausdrücklich und notwendig auf
Illusionierungen hinzielen. Mittel und Zweck des Schaffens durchdringen
 
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