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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung III
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Martersteig, Max: Illusionsbühne und Stilbühne
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0412

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406

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

sich gegenseitig in ihm unaufhörlich, verlangen so ausgesprochen ein
tätiges Miterleben des Kunstwerks vom Zuschauer, daß die Art der sich
dem Kunstwerk entlösenden Illusionierungen sogar auf keinem Punkte
rein zu beschränken ist.
Um es von vornherein zu sagen, möchte ich darum die Konstruierung
auch eines absoluten Gegensatzes zwischen Illusionsbühne und Stilbühne
nicht für glücklich halten; sie entbehrt für mich, nach der Rolle, die ich
dem Illusionismus im dramatischen Kunstprozeß zuweise, sogar der
logischen Richtigkeit.
Wer sich gegenwärtig macht, welch einen Komplex von zum Teil aus-
einanderstrebenden Kräften und Tendenzen, welch ein Sammelprodukt von
Fragmenten aus allen Künsten und Techniken das ist, was wir das Kunst-
werk der Bühne nennen, und wie ferner die geschichtliche Entwicklung das,
was wir der eigenen freien Bestimmung entsprungen glauben, häufig nur
als Notbehelfe empfunden und als solche weiter geschleppt hat, wer vor
allem dann daran denkt, daß unsere Bühnenkunst ein Stilgesetz haben
müßte und wenigstens eine Praxis haben muß, um für das Drama von
Aeschylos bis Ibsen den Rahmen zu spannen, der die vorgedachte Form
darbietet, die mit dichterischem Leben von so verschiedener Artung aus-
zufüllen ist, der wird sich, vor die Wahl einer Entscheidung gestellt, nicht
so leichten Sinnes für das eine oder das andere aussprechen, „wie sich’s der
unbegrenzte Sinn — der Theaterreformer — gedenken mag“.
Beschränken wir uns bei der Betrachtung der Kunstmittel der Bühne
selbst nur auf das echte Drama, so werden wir zunächst finden, daß die
dichterische Gestaltung eines dramatischen Vorgangs Körper gewinnen soll
und Leben durch die Körperlichkeit und das Leben des Schauspielers:
durch Gestus, Laut, Sprache. Der nur gedachte Vorgang wird in eine in
der Zeit sich entwickelnde Bewegung wirklichen Lebens umgesetzt.
Bewegung ist uns nun nicht vorstellbar ohne Raum, Raum nicht ohne
Begrenzung, Begrenzung nicht ohne Materialität irgend welcher Art. Ich
kann es nicht anders sehen, als daß da ein Schein erzeugt wird, eine
Illusion. Und wenn ich auch nicht sagen will, daß es durchaus die der
Natur, der Wirklichkeit sein müßte, so doch wohl eine des Lebens, die, um
sinnlich faßbar zu werden, in geschilderter Weise sich materialisieren muß.
Ich überspringe die hier sonst fast unvermeidliche Erörterung der
Schauspielkunst in ihrem selbständigen Wert, ihrer selbständigen Bedeutung
als Kunst, fasse sie zunächst nur als das Medium zur Verlebendigung
der dichterischen Absicht. Diese Absicht ist in den Reden der vom Dichter
vorgestellten Personen und in den meist spärlichen Vorschriften für inner-
liche und äußerliche Bewegung derselben niedergelegt. Sie ist Merkmal,
Idee, Symbol; ihre Materialisierung soll der Schauspieler vollziehen, der
dazu aber nichts anderes an Material besitzt als eben seinen Körper. So
sehen wir die Schauspielkunst ganz und gar gebunden an den biologisch
bedingten lebendigen Organismus des Menschen. Er ist das mehr oder
minder bereite, mehr oder minder geeignete Medium für die symbolischen
Zeichen und Werte der Dichtung; und nur durch die psycho-physiologisch
 
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