1IG
Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Charles Laloi
Programm einer soziologischen Ästhetik
I. Wir definieren die Ästhetik als die normative Wissen-
schaft von der Kunst. Ihr eigentlicher Gegenstand ist danach die
künstlerische, nicht die natürliche Schönheit. Ihre Arbeit hat eine wissen-
schaftliche, und zwar normative Bedeutung. Diese drei Kennzeichen: wissen-
schaftlich, normativ zu sein und die Kunst zum Gegenstand zu haben,
kommen nun hauptsächlich der soziologischen Ästhetik zu, wahrscheinlich
sogar ihr allein, da jede rein individualistische Ästhetik in Gefahr ist, in
einer unwissenschaftlichen Metaphysik zu enden.1)
Π. Die Kunst unterliegt nicht nur individuellen und abstrakten, sondern
notwendigerweise auch sozialen Bedingungen; denn durch diese allein
können jene ganz konkret werden.
1. Die rein individuellen Bedingungen der Kunst bleiben abstrakt und
verhältnismäßig unbestimmt. Die soziologische Ästhetik leugnet sie keines-
wegs. Sie betrachtet sie bloß als ihre noch abstrakten Vorbedingungen.
Die sozialen Bedingungen, als die kompliziertesten, bilden eine notwendige
Ergänzung zu den erstgenannten Vorbedingungen, die durch sie erst völlig
konkret werden.
Diese untergeordneten Bedingungen der Kunst sind es, welche die
verschiedenen Wissenschaften nebeneinander untersuchen. Wenn man von
den abstraktesten zu den konkretesten emporsteigt, kann man sagen, daß die
Schönheit eines musikalischen Satzes oder eines dekorativen Motivs
zugleich mathematische, physikalische, physiologische, psychologische und
endlich soziologische Bedingungen erfüllt.
2. Von diesen Schichten der Kunst bleiben die tieferen unzulänglich,
solange sie nicht durch das Gemeinschaftsleben eine bestimmte historische
Form erhalten.
3. Eine Tatsache gewinnt aber nicht dadurch einen sozialen Charakter,
daß sie eine Summe oder Mischung von individuellen Tatsachen darstellt,
sie ist vielmehr eine Synthese aus ihnen: so wie eine chemische Ver-
bindung neue Eigenschaften besitzt, die den einzelnen Bestandteilen fremd
sind. Der neue, spezifische Charakter der sozialen Synthese liegt in der
Disziplin, d. h. dem gleichsam verpflichtenden Charakter, dem moralischen
*) Über einige Hauptteile dieses Programms vgl. besonders: Lalo, Les
sentiments esthetiques, Paris, Alcan 1910. — Introduction ä l’esthetique, Paris,
Colin 1912.
Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Charles Laloi
Programm einer soziologischen Ästhetik
I. Wir definieren die Ästhetik als die normative Wissen-
schaft von der Kunst. Ihr eigentlicher Gegenstand ist danach die
künstlerische, nicht die natürliche Schönheit. Ihre Arbeit hat eine wissen-
schaftliche, und zwar normative Bedeutung. Diese drei Kennzeichen: wissen-
schaftlich, normativ zu sein und die Kunst zum Gegenstand zu haben,
kommen nun hauptsächlich der soziologischen Ästhetik zu, wahrscheinlich
sogar ihr allein, da jede rein individualistische Ästhetik in Gefahr ist, in
einer unwissenschaftlichen Metaphysik zu enden.1)
Π. Die Kunst unterliegt nicht nur individuellen und abstrakten, sondern
notwendigerweise auch sozialen Bedingungen; denn durch diese allein
können jene ganz konkret werden.
1. Die rein individuellen Bedingungen der Kunst bleiben abstrakt und
verhältnismäßig unbestimmt. Die soziologische Ästhetik leugnet sie keines-
wegs. Sie betrachtet sie bloß als ihre noch abstrakten Vorbedingungen.
Die sozialen Bedingungen, als die kompliziertesten, bilden eine notwendige
Ergänzung zu den erstgenannten Vorbedingungen, die durch sie erst völlig
konkret werden.
Diese untergeordneten Bedingungen der Kunst sind es, welche die
verschiedenen Wissenschaften nebeneinander untersuchen. Wenn man von
den abstraktesten zu den konkretesten emporsteigt, kann man sagen, daß die
Schönheit eines musikalischen Satzes oder eines dekorativen Motivs
zugleich mathematische, physikalische, physiologische, psychologische und
endlich soziologische Bedingungen erfüllt.
2. Von diesen Schichten der Kunst bleiben die tieferen unzulänglich,
solange sie nicht durch das Gemeinschaftsleben eine bestimmte historische
Form erhalten.
3. Eine Tatsache gewinnt aber nicht dadurch einen sozialen Charakter,
daß sie eine Summe oder Mischung von individuellen Tatsachen darstellt,
sie ist vielmehr eine Synthese aus ihnen: so wie eine chemische Ver-
bindung neue Eigenschaften besitzt, die den einzelnen Bestandteilen fremd
sind. Der neue, spezifische Charakter der sozialen Synthese liegt in der
Disziplin, d. h. dem gleichsam verpflichtenden Charakter, dem moralischen
*) Über einige Hauptteile dieses Programms vgl. besonders: Lalo, Les
sentiments esthetiques, Paris, Alcan 1910. — Introduction ä l’esthetique, Paris,
Colin 1912.