Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

DOI Heft:
Abteilung I
DOI Artikel:
Wallaschek, Richard: Subjektives Kunstgefühl und objektives Kunsturteil
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0169

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Wallaschek, Subjektives Kunstgefühl und objektives Kunsturteil

163

8. Oktober, nachmittags 3 Uhr
Verhandlungsleiter: Herr Marbe
Richard Wallaschek:
Subjektives Kunstgefühl und objektives Kunsturteil
I. Das G e f ü h 1 s u r t e i 1.
Das ästhetische Urteil ist ein Gefühlsurteil. Mit diesem einen Worte ist
schon die ganze Geringschätzung ausgedrückt, die ihm von einzelnen philo-
sophischen Schulen zuteil wird. Sie sagen, es ist „nur“ ein Gefühlsurteil,
und berufen sich auf manches Lehrbuch der Logik, das für das Gefühl die-
selbe Verachtung besitzt. Und doch müssen wir fragen, warum „nur“?
Ist das Gefühl wirklich weniger als der Verstand und der Wille? Das sagt
auch der strengste Logiker nicht, aber er meint, das Gefühl sei wankelmütig
(was nicht ganz richtig ist), es sei zu subjektiv, um allgemeingültige Urteile
zu ermöglichen (was ganz falsch ist).
Das Gefühl ist durchaus nicht größeren und häufigeren Schwankungen
unterworfen, als der Verstand, wir stellen ihm nur viel zu große und ver-
wickelte Aufgaben, während die Sicherheit unseres Verstandesurteiles immer
nur durch die allereinfachsten Beispiele bewiesen wird, vor allem durch die
Axiome der Mathematik und die logischen Schlußformeln. Aber das alles
sind eben nur Formen, deren Zuverlässigkeit allerlei Störungen unterworfen
ist, sobald sie nur mit dem geringsten Inhalt erfüllt werden. Bekanntlich
kann man „die Logik“ noch so gut kennen und doch falsch denken. Für die
Erkenntnis der Wahrheit sind sie ein Mittel, sie sind nicht die Erkenntnis
selbst und ein sehr problematisches Mittel obendrein. Und wieviel Lebens-
lagen gibt es, in denen sich der Verstand überhaupt nicht geltend machen
kann, weder logisch, noch unlogisch! Das Gefühl hingegen spricht in ein-
fachen Fällen viel sicherer und ist in seiner Funktion auch nicht so leicht
außer Kraft zu setzen, wie der Verstand. Es funktioniert in allen Lebens-
lagen. Wir verlangen aber weiter vom Gefühl, daß es den ganzen Tag hin-
durch von entgegengesetzten Eindrücken in Anspruch genommen, fort-
während zwischen den äußersten Grenzen hin und her gepeitscht wird und
am Abend noch vor dem verwickeltsten, neuesten Kunstwerk tadellos
funktioniert. Das ist freilich unmöglich.
Trotzdem leisten Empfindung und Gefühl sehr viel für unser Urteil.
Sie bringen uns nicht nur das reichste Material, sondern sprechen schon,
indem sie es bringen, ein Urteil aus. Erst der Verstand wirft alles unter-
11*
 
Annotationen