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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Wulff, Oskar: Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung in den bildenden Künsten
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0336

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330

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Oskar Wulff:
Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung in den bildenden
Künsten
Die hier an letzter Stelle zur Erörterung stehende Frage wurde
schon im Jahre 1883 von Anton Springer in seiner Leipziger Antritts-
vorlesung aufgeworfen. Springer wagte sie nur für die ornamentalen
Anfänge primitiver Kunsttätigkeit zu bejahen. Bis heute verhält sich die
Mehrheit der Forscher skeptisch zu ihr. Und doch arbeitet die Kunst-
wissenschaft durchweg unter der stillschweigenden Voraussetzung einer
immanenten Gesetzmäßigkeit der Kunstentwicklung. Hier ist also Klärung
unumgänglich erwünscht. Die bisherigen Versuche, objektive Kriterien der
kunstgeschichtlichen Betrachtung aus den Phänomenen selbst durch Ver-
gleichung abzuleiten, sind wohlberechtigt. Wenn solche Abstraktionen
eine Begründung aus dem Wesen des Gesamtphänomens Kunst zulassen,
können sie die Bedeutung empirischer Gesetze gewinnen, die zwar keine
axiomatische Formel für jede Kunstentwicklung enthalten, aber eine Reihe
von Vorgängen erhellen würden. Dazu bedarf es einer kurzen theoretischen
Grundlegung. Alle einschlägigen Grundbegriffe aber hat die geistes-
wissenschaftliche Forschung heute nicht durch philosophische Spekulation,
sondern auf psychologischer Grundlage zu entwickeln. Wir werden dem-
gemäß sagen dürfen: 1. Bildende Kunst ist eine Schöpfung der Gesell-
schaftspsyche; 2. der künstlerische Schaffensprozeß beruht darauf, daß die
reproduktive Betätigung der Raumphantasie durch das allgemeinere Lebens-
prinzip des Rhythmus geregelt wird. Rhythmus ist die am meisten adäquate
Bezeichnung für die gesamte Funktion des messenden Sinnes, wie sie im
regelmäßigen Aufbau von Liniensystemen, Flächen und Massen objektiviert
erscheint, weil dieser Ausdruck das Bewegungsmoment trifft, das auch
die Wahrnehmung solcher Verhältnisse begleitet, und weil er auf die
Analogie mit den Künsten des Zeitsinns hinweist. Auf der anderen Seite
erweist sich die Einführung des psychologischen Begriffs der Reproduktion
als fruchtbar. Denn damit wird die Grundfunktion des bildnerischen
Schaffens erfaßt, sowohl des rein phantasiemäßigen wie des unmittelbar
naturnachahmenden, während Bestimmungen wie das „imitative“ oder „natu-
ralistische“ Kunstprinzip leicht nur auf das letztere Verfahren bezogen
werden. Entscheidend ist aber die Erzeugung des inneren Bildes aus
Elementen der gesamten psychischen Erfahrung der Gesichtssinnes-
erlebnisse.
Die bildende Kunst als Ganzes zerfällt nun in zwei Reiche, je
nachdem, welches Prinzip das künstlerische Schaffen vorwiegend bestimmt.
 
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