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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Wulff, Oskar: Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung in den bildenden Künsten
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0337

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Wulff, Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung in den bildenden Künsten 331

Das rhythmische Prinzip herrscht vor in der Raum- und
Zierkunst, deren Wesen nicht vom außerästhetischen Zweckgedanken
abgeleitet werden kann. Umgekehrt ist in den bildenden Künsten
(im engeren Sinn) das reproduktive Prinzip dem rhythmischen
übergeordnet. Dort zielt die Entwicklungstendenz auf Erzeugung immer
reicherer Raummaße und -formen ab, hier auf Illusion, d. h. auf wachsende
Annäherung an die Naturwirklichkeit, wenngleich immer vorwiegend an
einzelne Seiten ihrer Erscheinung (Form, Farbe, Beleuchtung). Das
Prinzip des Illusionismus erschöpft nicht das Wesen der Kunst,
ist aber unentbehrliche Voraussetzung zur Erklärung der Entwicklung in
den bildenden (darstellenden) Künsten.
Die Frage nach der Gesetzmäßigkeit dieser Entwicklung erscheint
besonders verwickelt, wenn sie auf die ästhetische Gesamtwirkung, auf
den sogenannten direkten und assoziativen Faktor, bzw. auf Form und
Bedeutung der Kunstschöpfungen, zugleich bezogen wird. Am ehesten
besteht die Aussicht, Entwicklungsgesetze zunächst für den direkten
Faktor, d. h. für die raumsinnliche Gestaltung des Kunstwerks abzuleiten,
da einerseits die Dinge der Umwelt als Objekt dieser Gestaltung und
andererseits die psychischen Wurzeln der letzteren in gewissen Grenzen
konstant bleiben. Unter dem direkten Faktor sind in den bildenden
Künsten sämtliche mit dinglichen Vorstellungen in fester assoziativer Ver-
bindung stehenden Elemente der Anschauung (nicht bloß die konstitutiven
Sinnesempfindungen) zu verstehen, unter dem assoziativen alle sonst hinzu-
zudenkenden variablen Beziehungen, zumal wenn die Zeitvorstellung
hineinspielt.
Die Methode, welche zur Feststellung einer Gesetzmäßigkeit anzu-
wenden ist, ergibt sich aus den Voraussetzungen des Untersuchungs-
materials. Da aus der kunstgeschichtlichen Betrachtung erhellt, daß die
bildende Kunst sich so wenig wie die Sprache in einheitlicher Stufenfolge
entfaltet, sondern in periodischen, unendlich differenzierten Entwicklungs-
linien, so können allgemeingültige Schlüsse nur aus der Vergleichung
solcher genetischen Reihen gezogen werden. Die Erklärung der gleich-
artigen, sich wiederholenden Phänomene aber ist teils aus den psychischen
Wurzeln des Kunstschaffens (die Tatsachen der Sinnesphysiologie mitein-
begriffen), teils aus soziologischen Voraussetzungen zu gewinnen.
Eine psychologische Unterscheidung ist an die Spitze zu stellen, denn
sie begründet einen durchgehenden Gegensatz der künstlerischen Auf-
fassung. Der reproduktive Impuls kann von verschiedenen Sinneseindrücken
(bzw. Gesichtssinneserlebnissen) ausgehen, je nachdem die Wahrnehmung
mehr an der Gestaltqualität der Dinge oder am Unterschied ihrer Färbung
und Helligkeit haftet (im technischen Sinn an den Tonwerten). Danach
scheidet sich nicht nur die individuelle künstlerische Auffassung, vielmehr
nimmt die Anschauungsweise ganzer Kunstkreise periodisch
danach eine mehr plastische oder malerische Richtung. Für
diese verschiedene Anschauungsweise, die durch die gesamte Kulturlage
und Geisteshaltung bedingt ist und einer mehr substantiellen oder mehr
 
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