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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Wulff, Oskar: Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung in den bildenden Künsten
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0338

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332

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

phänomenalistischen Weltanschauung entspricht, lassen sich die ästhe-
tischen Kategorien „plastisch“ und „malerisch“ auf stellen, die von der
technischen Differenzierung der Künste unabhängig und ihr übergeordnet
sind und in diesem Sinne auch schon in der kunstwissenschaftlichen
Betrachtung längst angewandt werden, z. B. wenn man von plastischer Bild-
wirkung oder von malerischem Aufbau eines Bildwerks spricht und dergl.
Die Entfaltung der einzelnen Künste ist unter Berücksichtigung dieses
ästhetischen Gegensatzes nach ihrer Gesetzmäßigkeit zu
befragen. Abzusehen ist hingegen bei unserer engeren Problemstellung
davon, daß sich für die Entwicklung der gesamten bildenden Kunst
daneben noch die polaren Kategorien „architektonisch“ (bzw. tektonisch)
und „ornamental“ vom rhythmischen Prinzip ableiten lassen.
I. Innerhalb der plastischen Anschauungsweise, die sich
auf Wiedergabe der Dinge in klarer räumlicher Sonderung richtet, ergibt
sich die Differenzierung der Künste wieder nicht nur auf Grund der
äußeren (technischen) Bedingungen des Kunstschaffens, sondern zunächst
infolge verschiedener psychischer Impulse bzw. Gesichtssinneserlebnisse.
Um diese Unterschiede, deren tiefere Erforschung der Psychologie
überlassen bleiben muß, für die vergleichende Analyse der Phänomene
verwerten zu können, müssen wir ein paar kunstwissenschaft-
liche Hilfsbegriffe einführen, in denen sie gleichsam verdichtet
werden. (Sie bieten nur eine widerspruchsfreie Formulierung der psycho-
logischen Tatbestände, ohne etwas Endgültiges über diese auszusagen).
Einer dieser Grundbegriffe ist schon lange gebräuchlich. Von den ver-
schiedenen Bezeichnungen desselben (Fembild, Erinnerungs- oder
Gedankenbild) verdient die der (optischen) „Sehform“ den Vorzug.
Darunter soll hier eine simultan gegebene zweidimensionale Einzelansicht
eines Darstellungsobjektes verstanden werden, gleichviel ob eines realen
oder eines imaginären. Als zweiter Hilfsbegriff, der bisher einer schärferen
Bestimmung vollends entbehrt, kommt hinzu der des (plastischen) „Seh-
begriffe“, — das ist ein Komplex kontinuierlich zusammenhängender
Sehformen, die mit Bewegungs- und Tastempfindungen in fester Assoziation
(bzw. in sukzessiver Kooperation) zu einer dreidimensionalen Vorstellung
verknüpft sind.
Wie auch immer der „Sehbegriff“ psychologisch zu begründen sei,
unbestreitbar bleibt, daß die Reproduktion eines Komplexes von sukzessiven
Sinnesempfindungen eine ebenso sichere Erfahrungstatsache bildet, wie
die eines einzelnen Eindrucks (bzw. eines simultan gegebenen einfacheren
Komplexes). Es soll durch diesen Begriff ausgedrückt werden, daß auch
die Phantasietätigkeit des Bildhauers von einer Gesichtsvorstellung aus-
geht (vgl. Hildebrand), während in der Kunstwissenschaft dafür zu ein-
seitig die sogenannten taktischen oder haptischen Eindrücke geltend
gemacht worden sind.
Dieser doppelten psychischen Voraussetzung des Kunstschaffens
entspricht eine doppelte Möglichkeit ihrer äußeren (technischen) Verwirk-
lichung, also der Objektivierung des reproduktiven Impulses, nämlich:
 
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