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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Wulff, Oskar: Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung in den bildenden Künsten
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0339

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Wulff, Die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung in den bildenden Künsten 333

1. sowohl der zweidimensionalen Sehform, als auch (cum grano salis) des
dreidimensionalen Sehbegriffes in zweidimensionaler optischer, bzw.
graphischer, Realität, sodann 2. dieses letzteren in dreidimensionaler
kubischer oder haptischer, bzw. plastischer, Realität, endlich aber auch der
Sehform, so paradox es klingt, in solcher haptischer, wenngleich reduzierter,
Realität, — nämlich im Relief. So ergeben sich schon innerhalb der
ästhetischen Kategorie der plastischen Anschau-
ungsweise die Techniken: A) der form- und raum-
begrenzenden Zeichnung, B) der Rundplastik und C) der
Reliefbildnerei. (1 umfaßt A, 2 umfaßt B und C.) In diesen tech-
nischen Kategorien läßt sich nun mehrfach eine übereinstimmende Stufen-
folge der Entwicklung zwischen verschiedenen genetischen Reihen der
Kunstgeschichte nachweisen, wenngleich kein schematischer Parallelismus.
A. Maßgebend ist in dieser Entwicklung in erster Linie die Aus-
bildung der formbegrenzenden Zeichnung, obwohl sie
nicht den einheitlichen Ausgangspunkt der plastischen Anschauungsweise
bildet. Der illusionistische Fortschritt besteht hier in einer Ausgestaltung
der primitiven Silhouette (objektivierten zweidimensionalen Sehform) im
Sinne des Sehbegriffs zur Dreiviertelansicht als körperhaft wirksamster
Sehform. Die Phantasie strebt, in die Sehform möglichst viel vom Vor-
stellungsgehalt des Sehbegriffs hineinzulegen und dadurch den Flächen-
zwang zu überwinden. Bei dieser Auseinandersetzung wirkt der Sehbegriff
anfangs scheinbar störend, abgesehen von den bekannten Fehlem der
Kinderkunst, z. B. in der zusammengesetzten Projektion der ägyptischen,
altorientalischen, kretisch - mykenischen und archaischen griechischen
Kunst. In der ersteren aber ist es in Wahrheit schon eine konstruierte
Dreiviertelansicht. Für den weiteren Fortschritt, der (entsprechend dem
Übergange vom Erscheinungsmäßigen zum Körperhaften in der Kinder-
kunst) hauptsächlich auf der Einführung der Verkürzung beruht, besteht
eine analoge Stufenfolge zwischen der griechischen und der neuzeitlichen
Kunstentwicklung, in dem Sinne, daß nach der Silhouette (oder zusammen-
gesetzten Projektion) zuerst die schärferen frontalen oder dorsalen Pro-
jektionen und dann erst die Dreiviertelansicht des Rumpfes mit ihren
übersichtlichen Kürzungen, zuletzt die gleichen Verkürzungen der Glieder
gewonnen werden (dort mehr durch konstruktives Denken, hier durch
Rezeptionen und Versuche). Träger der Formvorstellung ist dabei der
Umriß (Albertis circonscrizione). (Diese Ausführungen wurden an einer
Reihe von Parallelbeispielen aus der griechischen Vasenmalerei und von
Zeichnungen und Fresken der Renaissance erläutert.)
B. Die Rundplastik hat einen selbständigen Ausgangspunkt im
Sehbegriff, dessen einzige adäquate, d. h. dreidimensionale (bzw. haptische)
Objektivierung sie bildet. Die äußere Entstehungsmöglichkeit ist, abgesehen
von primitiven Vorversuchen, schon gegeben in der aufbauenden (syn-
thetischen) Technik der Modellierung. Tatsachen der Kinderkunst,
prähistorische und vor allem die Erzeugnisse der kretisch-mykenischen
 
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