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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Busse, Kurt Heinrich: Vergleichende Entwicklungspsychologie der primitiven Kunst bei den Naturvölkern, den Kindern und in der Urzeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0238

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232

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Kurt H. Busse:
Vergleichende Entwicklungspsychologie
der primitiven Kunst
bei den Naturvölkern, den Kindern und in der Urzeit *)
Die Anfangsgründe menschlicher Ausdrucksbetätigung liegen, von der
Vorstufe auf rein haptischem Gebiete abgesehen, im Bereiche der Zier-
kunst. Das Individuum nimmt die fertigen Erzeugnisse seiner Umgebung
auf und verwendet sie als Gegenstände des Eigenschmuckes. Als inte-
grierender Beitrag des Subjekts macht sich bei diesem scheinbar rein
passiven Verfahren jedoch bereits die schöpferische Auslese geltend. Es
sind daher Objekte des direkten Körperschmucks, wie Ketten aus Muscheln
und Zähnen usw., die uns sowohl beim Urmenschen, wie bei den lebenden
Primitiven als die ersten Dinge subjektiver Wahl begegnen. Ohne daß bei
der Aufreihung solcher, rein der Natur entnommenen Formen noch irgend
etwas verändert oder dargestellt würde, bewähren sich hier von vornherein
doch schon weittragende, ästhetische Gesetzmäßigkeiten, die sogenannten
Gestaltungsprinzipien der Proportionalität, Symmetrie und des Rhythmus.
Später verwendet der Mensch auch Werkzeuge zum Behangschmuck, die
bekannten Fäustel aus Feuerstein, die die ältesten Erzeugnisse plastischer
Tätigkeit darstellen.
Denn auch die B i 1 d n e r e i ist auf dieser untersten Entwicklungsstufe
rein ornamental, keine Nachahmungskunst. An diesen Steinbeilen bildet
sich nun das erste Formideal aus, jene Mandelgestalt, die als eine technisch
nicht bedingte, fast unpraktische, also reine Schönheitsform, jedenfalls nicht
als Zweckform anzusehen ist. Die in dem neuen Entwicklungsanlauf des
Neolithikums hinzukommende Keramik wiederholt noch einmal dieses Ur-
stadium der nicht-naturdarstellenden Geräteplastik. Auch die bei
Experimenten mit Kindern beobachteten ornamentalen Tonwülste (Würst-
chen) verkörpern diesen ersten Zustand der Plastik.
Dennoch lassen sich die Anfänge einer Naturwiedergabe bis
weit hinter die genannte Entwicklungsperiode zurückverfolgen. Wie die
kindliche Phantasie die leblose Natur zur Gestaltenwelt des Märchenreiches
belebt, und wie auch wir noch in Wolken, Bergmassen usw. allerhand Wesen-
heiten hineinsehen, so verbinden auch die Naturvölker mit furcht- oder
aufsehenerregenden Naturgebilden, wie Klippen, Stromschnellen usw., Vor-

*) Vgl. meine Bemerkungen zum Vortrage des Herrn Hoernes (oben S. 216),
die als Einleitung zu den vorliegenden Ausführungen gedacht sind und mit diesen
den Grundriß einer späteren Schrift über die Anfänge der bildenden Kunst bilden.
 
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