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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Cornelius, Hans: Zur Ansichtsforderung in Architektur und Plastik: (Auszug)
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0273
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Cornelius, Zur Ansichtsforderung· in Architektur und Plastik (Auszug) 267

menschliche Gesichter und Figuren sind. Aus eben diesem Grunde hat
die naturgetreue Nachbildung natürlicher Erschei-
nung oder natürlicher Form mit der Lösung der künst-
lerischen Aufgabe nichts zu schaffen.
Nicht durch solche Nachbildung, sondern nur dadurch, daß der Künstler
seinen nach allgemein psychologischen Gesetzmäßigkeiten entstandenen
Vorstellungen gemäß seine Gegenstände gestaltet, kann charak-
teristische Gestaltung hervorgehen. Denn eben jene Vorstellungen der
Gegenstände sind stets charakteristische Bilder derselben. Das
Wesentliche der künstlerischen Tätigkeit ist daher die Ausbildung und
Bereicherung des Besitzes an solchen Vorstellungen und die Realisierung
dieses Besitzes in irgendwelchem Material; eine Tätigkeit, die von Kindern
und Naturvölkern regelmäßig geübt, bei uns aber durch die Schule und
ihren falschen Zeichenunterricht ebenso regelmäßig lahmgelegt wird. Daß
diese Realisierung stets künstlerische Gestaltung im vorher definierten
Sinne ist, erkennt man, wenn man bedenkt, daß wir, um eine Darstellung zu
verstehen, gerade den Eindruck von ihr erhalten müssen, der einer uns
geläufigen Vorstellung entspricht. Wie alles Erkennen, so kommt eben
auch das Sehen nur mit Hilfe unserer bereits vorhandenen
Vorstellungen zustande.
Die Gestaltung dreidimensionaler Gegenstände muß nach dem vorigen
immer mindestens auf eine Ansicht als charakteristische gerichtet sein.
Dabei kann eventuell von den übrigen Seiten her alle Gestaltung fehlen,
so daß diese Seiten künstlerisch nicht vorhanden sind; es können aber
auch außer jener ersten Ansicht noch weitere Ansichten gestaltet werden,
die alsdann ihre künstlerische Bedeutung unabhängig voneinander besitzen
und keineswegs notwendig durch überleitende Ansichten verbunden sein
müssen (wie es z. B. archaische und gotische Plastiken besonders häufig
zeigen). Manche einfache architektonische Formen zeigen charakteristische
Ansichten von jeder Seite her.
Unter Ansicht von einer Seite her ist, wie abermals gegenüber einem
seltsamen Mißverständnis zu betonen ist, nicht die Ansicht von einem
bestimmten Punkt her zu verstehen. Nur wer die vom Vortragenden
anderweitig beschriebenen Tatsachen des abstrakten Sehens über-
sieht, kann diesem Mißverständnis verfallen. Entsprechend diesen Tat-
sachen muß vielmehr jede Ansicht so gestaltet werden, daß innerhalb
gewisser, meist ziemlich weiter Grenzen dem Beschauer Bewegungsfreiheit
bleibt, ohne daß durch seine Ortsänderung die charakteristische Wirkung
der Ansicht gestört wird.
Die aufgestellte Forderung schließt das Hildebrandsche Reliefgesetz
in sich. Jede Ansichtsseite eines Werkes muß für den Beschauer die
Ansichtsrichtung unmittelbar bestimmen. Dies aber ist nur so weit
geleistet, als sich sogleich auf den ersten Blick alle Teile des Gesehenen in
Ebenen einordnen, die zur Blickrichtung senkrecht stehen, so daß ins-
besondere kein Zweifel darüber besteht, welches diese Haupt-
 
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