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Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft
Bericht — 1914

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Abteilung II
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Cornelius, Hans: Zur Ansichtsforderung in Architektur und Plastik: (Auszug)
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https://doi.org/10.11588/diglit.65508#0274

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268

Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

richtung ist. Ein solcher Zweifel aber wird durch alle auffälligen
Unregelmäßigkeiten der Profilierung, durch alles auffällige einseitige Vor-
springen aus der Fläche hervorgebracht. Es wird durch die genannte Forde-
rung also gerade alles dasjenige gefordert bzw. verworfen, was sich auch aus
der Hildebrandschen Theorie als gefordert bzw. verworfen ergibt.
Anwendungen dieses Ergebnisses auf Gegenstände mit allseitiger
Ansicht und auf Ansichten von Innenräumen bildeten den Schluß des
Vortrages.
Diskussion:
Herr Wulff: Die Obersätze, in denen die Unklarheit des Naturvorbildes
ausgesprochen wurde, sind dem Vortragenden unbedingt zuzugeben, auch daß
es bei der Klärung desselben nicht auf Erkennbarmachen der Einzelheiten, sondern
der Zusammenhänge ankommt. Es entsteht nun die Frage, worauf die künst-
lerische Gestaltung in der Architektur und Plastik ausgeht. Sie will, wie sich die
Ausführungen wohl verstehen lassen, das Ganze in simultaner
Anschauung, wenn auch nicht von einem unverrückbaren Standpunkt, bieten.
Da liegt es zunächst auf der Hand, daß zwischen beiden Künsten ein tiefer Unter-
schied besteht. Die Forderung ist für die Architektur viel leichter erfüllbar, weil
diese mit bekannten oder unschwer erkennbaren regelmäßigen (geometrischen)
Formen arbeitet, als für die Plastik, welche zwar auch ein bekanntes, aber ein
außerordentlich verschiebbares Gebilde, den menschlichen Körper, gestaltet. Daß
sie in der Regel auch hier erfüllt wird, läßt sich nicht bestreiten, zumal da der
Vortragende sie nur als Minimalforderung ansieht und dem Beschauer eine gewisse
Bewegungsfreiheit zugesteht. Aber die Beziehung auf die Hildebrandsche Relief-
anschauung beweist, daß er diese doch nur in sehr beschränkten Grenzen zulassen
will. Und dagegen muß ein Einwand erhoben werden. Es gibt eine beträchtliche
Anzahl von antiken und modernen Bildwerken, die ihren vollen plastischen Gehalt
in der Hauptansicht nicht herausgeben, sondern geradezu die Betrachtung im
Herumgehen erfordern, so z. B. der borghesische Fechter, die Pasquino- u. a.
Gruppen, sowie der eine Sklave im Louvre und der Bacchus von Michel Angelo
oder das Drama von Klinger. Man kann bei ihnen auch nicht von mehreren
gesonderten Ansichten sprechen, vielmehr gleitet die eine in die andere über. Ganz
besonders ist das bei manchen Typen der Frühgotik der Fall, die in enger Verbin-
dung mit der Architektur (z. B. den Ecken) stehen und durchaus in der Bewegung
des Vorbeischreitens genossen werden wollen. Sie erscheinen bei der Betrachtung
vom festen Standpunkt noch dünner, als es durch die schlanken Proportionen
bedingt ist, und haben zum Teil nicht einmal in der Hauptansicht die volle Über-
sichtlichkeit. Daraus folgt, daß sich auch in der Plastik (wie in der Architektur
beim Durchschreiten von Räumen und in der Malerei bei der Betrachtung von
Friesen) die Aufnahme des Kunstwerks durch den Beschauer gelegentlich
nicht simultan, sondern in sukzessivem Zeitablauf vollzieht. Dann
erhebt sich freilich die Gegenfrage, aus welcher Quelle die Schöpfung solcher
Werke von Seiten des Künstlers entspringt. Der letztere geht offenbar in solchem
Falle nicht von einer Einzelansicht aus, sondern von einem Komplex
kontinuierlich zusammenhängender Sehformen. Wir müssen
für diesen Komplex nach einem geeigneten Terminus suchen, und ich möchte dafür
den Ausdruck der Sehbegriff vorschlagen, den ich in meinen Vorlesungen
bereits anzuwenden pflege.
 
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