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Der Kreis: Zeitschrift für künstlerische Kultur ; Organ der Hamburger Bühne — 8.1931

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Nr. 6 (Juni)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43624#0373
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DER KREIS
Zeitschrift für künstlerische Kultur
VIII. Jahrgang
Sechstes Heft Juni 1931

Das sexuelle Problem in der Literatur
Von Johannes V. Jensen
What do you mean about sex? fragte mich eine Dame vor einigen
Jahren in London, so über den Tisch hinüber, vertraulich, er-
fahren, eine Dame der Gesellschaft, Schriftstellerin, ältlich, und dann
setzte sie sich recht behaglich zurecht, wie eine Henne, die Eier
legen will — eine englische Dame, wohlverstanden, England, die
feste Burg der Wohlanständigkeit, das Land, wo kein Sexus exi-
stierte, jedenfalls nicht gedruckt, während der ganzen langen
viktorianischen Zeit bis zu Swift und den derben Schriftstellern
des achtzehnten Jahrhunderts (die man heute mit Begeisterung wie-
der ausgräbt). Das prüde, zugeknöpfte England! Und diese Frage
wurde an mich gestellt, der ich meine Begriffe von Wohlanständigkeit
immer aus England geholt und Frankreich ausgescholten hatte, weil
man dort mit dem Unterrock flaggt! Neben den Eindrücken meiner
Jugend, die ich auf dem Lande verlebte, wo man derb und natürlich
ist, aber Schamgefühl besitzt, hat mir, ich gestehe es, die englische
Art immer zugesagt: geschlechtliche Dinge zu ignorieren, jedenfalls
in der Literatur, Englische und amerikanische Zurückhaltung auf
sexuellem Gebiet aber existiert nicht mehr. Früher hatte ich Eng-
land und Amerika im Rücken, wenn ich meine Ausfälle gegen die
Bettliteratur machte, wie ich es nannte, nun aber kann ich mich der
traurigen Tatsache nicht länger verschließen, daß ich der einzig
überlebende, letzte Angelsachse bin! Ich bin nicht der Zeit gefolgt
und habe auch nicht die Absicht, es zu tun.
In Dingen der Liebe kann man sich alles erlauben, vorausgesetzt,
daß man den Mund hält. Es sind ihrer ja immer zwei, die um das
Geheimnis wissen, und um des andern willen schweigt man, wird
man auch mit glühenden Zangen gezwickt. Eine Frau hinterher durch
Schwatzen verraten, ist eine Belustigung für den Plebs, und das-
selbe gilt auch für Schwatzhaftigkeit in der Literatur, Daß sexuelle
Freisprache eine Heldentat ist, für die man wie ein Märtyrer ver-
folgt wird, ist nichts als eine Passionsgeschichte, die Leute erfunden
haben, die sich auf andere Weise nicht bemerkbar machen können
und es auf diese Weise versuchen. Sexuelle Freiheit und sexuelle
Literatur sind so verschieden voneinander wie sexuelle Aufklärung

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