VI.
DIE KUNST DES MESOLITHIKUMS
Es gibt keinen Stillstand in der Kunst, kein Bleiben und Beharren, denn alles
Ruhen ist Erschlaffung, es gibt nur ewiges Werden undÄVandeln. Nicht mehr
von Entwicklung im Sinne einer Höherwertung können wir sprechen, nicht
mehr zugleich ein Werturteil abgeben, wenn wir die Wandlung betrachten —
was wir sehen, ist nur Bewegung, nichts als Bewegung. Nicht mehr steht unsere
Zeit im Zenith — wir haben diesen Hoch- und Übermut verloren. Wir haben
gelernt, dal? viele der Leistungen der Kunst vor dreißigtausend Jahren vollkom-
mener und in sich geschlossener, reiner und größer waren, als manches Kunst-
werk unserer Tage.
Die Probleme der Kunst tauchen auf, geboren aus dem Wesen der Zeit, er-
reichen ihre Höhe und klingen dann ab, und eine neue Zeit beginnt und mit ihr
eine neue Kunst. In dieser ewigen Wandlung, in diesem ewig gleichen Gesetz
liegt die Notwendigkeit, die Anagke der Griechen. Sie ist das Beharren, das
die Bewegung ist. Und der Gedanke an Bergson wird wach: „Gette realite est
mobilite. II n’existe pas des choses faites, mais seulement des choses qui se font,
pas d’etat qui se maintiennent, mais seulement des etat, qui changent.“ Lebendige
Ewigkeit nennt er das Sein, „eternite vivante et par consequent mouvante encore.“
Der Sensorismus ist erfüllt in den Werken des Paläolithikums, er ist auch
erfüllt in den Gemälden der Buschmänner und den Zeichnungen der Eskimos.
DieÄVandlung kündigt sich schon an in den Gruppenbildern der Buschmänner,
in den Jagdszenen der Eskimos. Irgendwie ist hier das ursprüngliche individua-
listische Leben schon durchbrochen, irgendwie liegen schon in den Keimen neue
Gedanken, die über das Alte hinaus weisen. Und so sonderbar es erscheint: es
ist, als wenn die Bahnen der künstlerischen Gesamtbewegung in ihren Grund-
zügen festgelegt wären — es ist eine Notwendigkeit in den Dingen, die uns
immer wieder erschauern läßt vor ihrer kristallklaren Schärfe. Dieselbe Bewe-
gung zur Gruppe, wie sie in den späteren Werken die Buschmannmalerei hat,
wie sie die Eskimokunst kennt, dieselbe Bewegung, die schließlich auch den
Menschen zeichnete, stilisiert zeichnete, dieselbe Bewegung findet sich im Me-
solithikum, der mittleren Steinzeit.
Im mittleren und südlichen Spanien, in der Saharakette des Atlas, in den
Hinterländern der Südküste des Mittelmeeres, ja, auch in Oberägypten findet
man Felsmalereien in Rot und Schwarz. Das Tier wird dargestellt, das sorg-
4 Küh
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DIE KUNST DES MESOLITHIKUMS
Es gibt keinen Stillstand in der Kunst, kein Bleiben und Beharren, denn alles
Ruhen ist Erschlaffung, es gibt nur ewiges Werden undÄVandeln. Nicht mehr
von Entwicklung im Sinne einer Höherwertung können wir sprechen, nicht
mehr zugleich ein Werturteil abgeben, wenn wir die Wandlung betrachten —
was wir sehen, ist nur Bewegung, nichts als Bewegung. Nicht mehr steht unsere
Zeit im Zenith — wir haben diesen Hoch- und Übermut verloren. Wir haben
gelernt, dal? viele der Leistungen der Kunst vor dreißigtausend Jahren vollkom-
mener und in sich geschlossener, reiner und größer waren, als manches Kunst-
werk unserer Tage.
Die Probleme der Kunst tauchen auf, geboren aus dem Wesen der Zeit, er-
reichen ihre Höhe und klingen dann ab, und eine neue Zeit beginnt und mit ihr
eine neue Kunst. In dieser ewigen Wandlung, in diesem ewig gleichen Gesetz
liegt die Notwendigkeit, die Anagke der Griechen. Sie ist das Beharren, das
die Bewegung ist. Und der Gedanke an Bergson wird wach: „Gette realite est
mobilite. II n’existe pas des choses faites, mais seulement des choses qui se font,
pas d’etat qui se maintiennent, mais seulement des etat, qui changent.“ Lebendige
Ewigkeit nennt er das Sein, „eternite vivante et par consequent mouvante encore.“
Der Sensorismus ist erfüllt in den Werken des Paläolithikums, er ist auch
erfüllt in den Gemälden der Buschmänner und den Zeichnungen der Eskimos.
DieÄVandlung kündigt sich schon an in den Gruppenbildern der Buschmänner,
in den Jagdszenen der Eskimos. Irgendwie ist hier das ursprüngliche individua-
listische Leben schon durchbrochen, irgendwie liegen schon in den Keimen neue
Gedanken, die über das Alte hinaus weisen. Und so sonderbar es erscheint: es
ist, als wenn die Bahnen der künstlerischen Gesamtbewegung in ihren Grund-
zügen festgelegt wären — es ist eine Notwendigkeit in den Dingen, die uns
immer wieder erschauern läßt vor ihrer kristallklaren Schärfe. Dieselbe Bewe-
gung zur Gruppe, wie sie in den späteren Werken die Buschmannmalerei hat,
wie sie die Eskimokunst kennt, dieselbe Bewegung, die schließlich auch den
Menschen zeichnete, stilisiert zeichnete, dieselbe Bewegung findet sich im Me-
solithikum, der mittleren Steinzeit.
Im mittleren und südlichen Spanien, in der Saharakette des Atlas, in den
Hinterländern der Südküste des Mittelmeeres, ja, auch in Oberägypten findet
man Felsmalereien in Rot und Schwarz. Das Tier wird dargestellt, das sorg-
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