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XII.
DIE KUNST KRETAS UND MYKENÄS
Als die Wissenschaft des Spatens am Ende des vorigen und am Anfang dieses
Jahrhunderts die Wunder Kretas und Mykenäs erschloß, stand die Welt vor
einem Rätsel. Aus dem Dunkel der Erde stieg eine Kultur herauf, die niemand
gekannt, niemand geahnt hatte. Es erwuchs eine Zeit, von deren Größe und
Macht keine Geschichte, nur Sagen und Märchen erzählt hatten.
Schliemann hatte 1874 in Mykenä zu graben begonnen, 1880 grub er in Or-
chomenos, 1884 in Tiryns. 1899 begannen Evans’ Grabungen auf Kreta. Heute
ist die Zahl der Forscher, die sich um die Aufdeckung der ägäischen Kultur
verdient gemacht haben, sehr groß, fast alle Kulturvölker haben ihre besten
Männer gestellt.
Das am wenigsten Deutbare war die ganz naturhafte Kunst. Man war an
den Gedanken gewöhnt, daß die Freiheit und Lebenskraft der griechischen
Kunst aus der gebundeneren archaischen Kunst entstanden sei. Plötzlich fand
man lange vor der archaischen Form eine ganz naturhafte Kunst, die doch
wieder von der griechischen verschieden war. Man stand vor einem Rätsel. Die
ägyptische Kunst konnte nicht die Führerin Kretas sein, weil ihr Wresen ganz
anders ist, aber man nahm Einflüsse der Hetiter an wie Paulsen oder Prinz.
Doch mit Einflüssen anderer Völker ist diese Kunst nicht erklärt. Einflüsse
wird es gegeben haben — sie kamen von Ägypten sowohl wie von Babylon-
Hetitien —, aber sie deuten die Kunst nicht. Dieselben Einflüsse wandten sich
auch nach den anderen Inseln, nach Norden und Mitteleuropa —' sie haben
dort die Kunst nicht gewandelt. Die Welt Kretas und Mykenäs ist zu boden-
ständig, zu festgewurzelt, zu eigenwillig, als daß Einflüsse sie ganz erklären
könnten.
Die Kultur Kretas ist eine andere als die des Neolithikums. Die ökonomische,
soziale, politische und religiöse Struktur hat sich grundlegend gewandelt. Der
Ackerbau steht nicht mehr im Vordergrund, der Handel beherrscht den Staat.
Man fand in den Speichern der Handelsherren Waren aus allen Ländern der
"Welt. Bernstein kam von der Ostseeküste nach Kreta, und kretische Vasen
wanderten eintausenddreihundert Kilometer nilaufwärts bis nach Nubien; auf
ägyptischen Bildern bringen Menschen, die von Ägyptern deutlich unterschieden
sind, kretische Väsen herbei, und die Odyssee berichtet, daß ägyptische Skara-
bäen und Elfenbein nach Mykenä gebracht wurden. Die Annalen des Pharao

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