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IV. Die Legende von den drei Lebenden und den drei Toten.
Doch schon viel früher kennt die arabische Poesie den Spruch der Toten
an die Lebenden. Von einem vorislamitischen Könige von Mekka, Modhadh,
der im Anfange des 3. Jahrhunderts n. Chr. lebte, übersetzte Hammer-
Purgstall1 ein ähnliches Gedicht mit folgendem Schluß:
Wir waren einstens Männer, wie ihr seid;
Ihr werdet, was wir [sind], auch einst sein.
Ich glaube, das Resultat kann jetzt nicht mehr zweifelhaft sein: der im
ganzen Mittelalter so beliebte Spruch der Toten an die Lebenden:
Was ihr seid, das waren wir:
Was wir sind, das werdet ihr,
für den sich weder in der paganen noch in der frühchristlichen Sepulkralsprache
Belege finden lassen, stammt aus der arabischen Spruchpoesie. Er kam im
10. oder 11. Jahrhundert aus dem arabischen Spanien, mit dem das Abend-
land gerade in dieser Zeit so reiche literarische Verbindungen unterhielt,
hierhin und erhielt sich bis zur Gegenwart.
Als einzelner Spruch wird unsere Mahnung der Toten an die Lebenden
in der deutschen Literatur zum erstenmal im Freidank 22, 16 verwendet:
Sus sprechent di da sint begraben
beidin zen alten und zen knaben:
,Daz ir dä sit, daz wären wir;
daz wir nü sin, daz werdet ir.'
Volkstümlich wird das Dictum in der Form von Überschriften an Kirchen,
so zu Neuweiler im Elsaß (13. Jahrhundert):
Vos, qui transitis, nostri memores rogo sitis;
Quod sumus, hoc eritis, fuimus quandoque, quod estis 2.
Oft scheint es an Kirchhofseingängen verwendet worden zu sein, so zu
Eilenburg, Teplitz, Kiewitten:
Was ihr seid, das waren wir;
Was wir sind, das werdet ihr.
Auch in Frankreich findet sich diese Verwendung; über der Kirchhofstür
zu Avignon heißt es:
Nous etions que vous etes,
Et vous serez ce que nous sommes 3.
2. DIE VOLLSTÄNDIGE LEGENDE IN DER MITTELALTER-
LICHEN LITERATUR.
Viel beachtenswerter ist dieser Spruch aber in einer andern Verwendung,
nämlich als Inhalt zu einer dramatischen Legende, die im Mittelalter sich
ebenfalls großer Beliebtheit erfreute.
Zuerst begegnet sie uns bei dem scholastischen Theologen und englischen
Staatsmann unter Heinrich II Plantagenet, Walter de Map es 4 (geb. 1135,
1 Literaturgeschichte der Araber 1 1, Wien
1850, 94. Vgl. R. Köhler, Kleinere Schriften
II 36. — Die vorige Stelle bei Hammer-
Purgstall a. a. 0. 183.
2 Mitgeteilt von Kraus, Die christlichen
Inschriften II, Freiburg 1892, 53.
3 Vgl. R. Köhler a. a. 0. 30.
4 Vgl. Wright, The latin poenis com-
nionly attributed to Walter Mapes, London
1841, und Phillips, Walter Map, Beitrag
zur Geschichte König Heinrichs II. von Eng-
land und des Lebens an seinem Hofe: Sitzungs-
berichte derWiener Akademie, phil.-hist. Klasse
X (1853) 319 ff.
IV. Die Legende von den drei Lebenden und den drei Toten.
Doch schon viel früher kennt die arabische Poesie den Spruch der Toten
an die Lebenden. Von einem vorislamitischen Könige von Mekka, Modhadh,
der im Anfange des 3. Jahrhunderts n. Chr. lebte, übersetzte Hammer-
Purgstall1 ein ähnliches Gedicht mit folgendem Schluß:
Wir waren einstens Männer, wie ihr seid;
Ihr werdet, was wir [sind], auch einst sein.
Ich glaube, das Resultat kann jetzt nicht mehr zweifelhaft sein: der im
ganzen Mittelalter so beliebte Spruch der Toten an die Lebenden:
Was ihr seid, das waren wir:
Was wir sind, das werdet ihr,
für den sich weder in der paganen noch in der frühchristlichen Sepulkralsprache
Belege finden lassen, stammt aus der arabischen Spruchpoesie. Er kam im
10. oder 11. Jahrhundert aus dem arabischen Spanien, mit dem das Abend-
land gerade in dieser Zeit so reiche literarische Verbindungen unterhielt,
hierhin und erhielt sich bis zur Gegenwart.
Als einzelner Spruch wird unsere Mahnung der Toten an die Lebenden
in der deutschen Literatur zum erstenmal im Freidank 22, 16 verwendet:
Sus sprechent di da sint begraben
beidin zen alten und zen knaben:
,Daz ir dä sit, daz wären wir;
daz wir nü sin, daz werdet ir.'
Volkstümlich wird das Dictum in der Form von Überschriften an Kirchen,
so zu Neuweiler im Elsaß (13. Jahrhundert):
Vos, qui transitis, nostri memores rogo sitis;
Quod sumus, hoc eritis, fuimus quandoque, quod estis 2.
Oft scheint es an Kirchhofseingängen verwendet worden zu sein, so zu
Eilenburg, Teplitz, Kiewitten:
Was ihr seid, das waren wir;
Was wir sind, das werdet ihr.
Auch in Frankreich findet sich diese Verwendung; über der Kirchhofstür
zu Avignon heißt es:
Nous etions que vous etes,
Et vous serez ce que nous sommes 3.
2. DIE VOLLSTÄNDIGE LEGENDE IN DER MITTELALTER-
LICHEN LITERATUR.
Viel beachtenswerter ist dieser Spruch aber in einer andern Verwendung,
nämlich als Inhalt zu einer dramatischen Legende, die im Mittelalter sich
ebenfalls großer Beliebtheit erfreute.
Zuerst begegnet sie uns bei dem scholastischen Theologen und englischen
Staatsmann unter Heinrich II Plantagenet, Walter de Map es 4 (geb. 1135,
1 Literaturgeschichte der Araber 1 1, Wien
1850, 94. Vgl. R. Köhler, Kleinere Schriften
II 36. — Die vorige Stelle bei Hammer-
Purgstall a. a. 0. 183.
2 Mitgeteilt von Kraus, Die christlichen
Inschriften II, Freiburg 1892, 53.
3 Vgl. R. Köhler a. a. 0. 30.
4 Vgl. Wright, The latin poenis com-
nionly attributed to Walter Mapes, London
1841, und Phillips, Walter Map, Beitrag
zur Geschichte König Heinrichs II. von Eng-
land und des Lebens an seinem Hofe: Sitzungs-
berichte derWiener Akademie, phil.-hist. Klasse
X (1853) 319 ff.