2. Die vollständige Legende in der mittelalterlichen Literatur.
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Auch der zweite Tote gebärdet sich als Prediger und führt den Lebenden
zu Gemüte, wie töricht es sei, wegen kurzer irdischer Freuden den Verlust
des Paradieses zu riskieren. Er schließt:
Faictes des biens plus que povez;
Autre chose n'emporteres.
Der dritte Tote hat sein eigenes Elend ganz vergessen und hält der in
Üppigkeit und Schwelgerei verderbten Welt eine Strafrede.
Der erste Lebende beginnt unter Anrufung des heiligen Kreuzes und
variiert die Gedanken des ersten Toten; auch seine beiden Genossen wieder-
holen nur mit andern Worten die Gedanken, die sie von den Gerippen ver-
nommen haben.
In dieser letzten Form wurde die Legende in die „Editio princeps" des
erweiterten Pariser Totentanzes (La grande dance macabre) von Guyot
Marchant 1486 aufgenommen und erfuhr so die weiteste Verbreitung, zumal
sie auch in den meisten Nachdrucken und Neuausgaben, die bis ins 18. Jahr-
hundert in Frankreich als Volksbücher beliebt waren, erscheint1.
Früher noch als in Frankreich wurde die Legende in Italien poetisch
bearbeitet, vorausgesetzt daß das von Pietro Vigo2 mitgeteilte lateinische
Gedicht von 45 Strophen, das Giuseppe Ferraro in einer Handschrift der
Bibliothek zu Ferrara fand, in der Tat, wie uns versichert wird, aus dem
12. Jahrhundert stammt.
Das Poem ist in mehrfacher Hinsicht merkwürdig. Dem Verfasser lag
als Quelle des Stoffes nicht ein älterer Text, sondern, wie sich aus der viert-
letzten Strophe ergibt, ein Gemälde vor. Darum kommt der Inhalt der
Legende in ihm nur ganz verschwommen, aber in ihren Grundzügen doch er-
kenntlich zur Darstellung: drei Männer treten vor ein offenes Grab oder eine
Grube, in der sie zwischen andern Totengebeinen einen Leichnam liegen sehen.
Der eine der Lebenden spricht davor in zwölf Strophen über die Vergäng-
lichkeit des Irdischen ohne Einmischung religiöser Motive. Die übrigen
30 Strophen werden dem dritten Lebenden in den Mund gelegt, ohne daß der
zweite zu Wort gekommen wäre. Das Gedicht hat hier also wohl eine Lücke,
und vielleicht stammen die Strophen des dritten Lebenden von einem andern
Verfasser, weil hier religiöse Gedanken im Gegensatz zum ersten Teil stark
in den Vordergrund treten.
Wenn ich hier das ganze Gedicht mitteile, so geschieht es auch aus dem
Grunde, weil es inhaltlich und formell eine auffallende Ähnlichkeit hat mit
dem „Dies irae". Und da diese berühmte kirchliche Sequenz nach all-
gemeiner Annahme erst aus dem 13. Jahrhundert stammt, so dürfen wir
vielleicht in dem folgenden Gedicht das Urbild vom Dies irae sehen:
Cum apertam sepulturam
Viri tres aspicerent,
Ac orribilem figuram
Intus esse cernerent,
Quendam scilicet iacentem,
Nec recenter positum,
Imo totum putrescentem,
Squalidum et fetidum;
1 Vgl. Massmann, Literatur der Toten-
tänze, Leipzig 1840, 92 ff. Mir liegt der Neu-
.druck von Baillieu, Paris ohne Jahr (1860), vor.
Künstle, Drei Lebende und drei Tote.
* Le Danze macabre in Italia. 2. edizione
riveduta con una lettera del Prof. A. Pelle-
grini. Bergamo 1901, 82 ff.
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Auch der zweite Tote gebärdet sich als Prediger und führt den Lebenden
zu Gemüte, wie töricht es sei, wegen kurzer irdischer Freuden den Verlust
des Paradieses zu riskieren. Er schließt:
Faictes des biens plus que povez;
Autre chose n'emporteres.
Der dritte Tote hat sein eigenes Elend ganz vergessen und hält der in
Üppigkeit und Schwelgerei verderbten Welt eine Strafrede.
Der erste Lebende beginnt unter Anrufung des heiligen Kreuzes und
variiert die Gedanken des ersten Toten; auch seine beiden Genossen wieder-
holen nur mit andern Worten die Gedanken, die sie von den Gerippen ver-
nommen haben.
In dieser letzten Form wurde die Legende in die „Editio princeps" des
erweiterten Pariser Totentanzes (La grande dance macabre) von Guyot
Marchant 1486 aufgenommen und erfuhr so die weiteste Verbreitung, zumal
sie auch in den meisten Nachdrucken und Neuausgaben, die bis ins 18. Jahr-
hundert in Frankreich als Volksbücher beliebt waren, erscheint1.
Früher noch als in Frankreich wurde die Legende in Italien poetisch
bearbeitet, vorausgesetzt daß das von Pietro Vigo2 mitgeteilte lateinische
Gedicht von 45 Strophen, das Giuseppe Ferraro in einer Handschrift der
Bibliothek zu Ferrara fand, in der Tat, wie uns versichert wird, aus dem
12. Jahrhundert stammt.
Das Poem ist in mehrfacher Hinsicht merkwürdig. Dem Verfasser lag
als Quelle des Stoffes nicht ein älterer Text, sondern, wie sich aus der viert-
letzten Strophe ergibt, ein Gemälde vor. Darum kommt der Inhalt der
Legende in ihm nur ganz verschwommen, aber in ihren Grundzügen doch er-
kenntlich zur Darstellung: drei Männer treten vor ein offenes Grab oder eine
Grube, in der sie zwischen andern Totengebeinen einen Leichnam liegen sehen.
Der eine der Lebenden spricht davor in zwölf Strophen über die Vergäng-
lichkeit des Irdischen ohne Einmischung religiöser Motive. Die übrigen
30 Strophen werden dem dritten Lebenden in den Mund gelegt, ohne daß der
zweite zu Wort gekommen wäre. Das Gedicht hat hier also wohl eine Lücke,
und vielleicht stammen die Strophen des dritten Lebenden von einem andern
Verfasser, weil hier religiöse Gedanken im Gegensatz zum ersten Teil stark
in den Vordergrund treten.
Wenn ich hier das ganze Gedicht mitteile, so geschieht es auch aus dem
Grunde, weil es inhaltlich und formell eine auffallende Ähnlichkeit hat mit
dem „Dies irae". Und da diese berühmte kirchliche Sequenz nach all-
gemeiner Annahme erst aus dem 13. Jahrhundert stammt, so dürfen wir
vielleicht in dem folgenden Gedicht das Urbild vom Dies irae sehen:
Cum apertam sepulturam
Viri tres aspicerent,
Ac orribilem figuram
Intus esse cernerent,
Quendam scilicet iacentem,
Nec recenter positum,
Imo totum putrescentem,
Squalidum et fetidum;
1 Vgl. Massmann, Literatur der Toten-
tänze, Leipzig 1840, 92 ff. Mir liegt der Neu-
.druck von Baillieu, Paris ohne Jahr (1860), vor.
Künstle, Drei Lebende und drei Tote.
* Le Danze macabre in Italia. 2. edizione
riveduta con una lettera del Prof. A. Pelle-
grini. Bergamo 1901, 82 ff.