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Die Kunst-Halle — 9.1904

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Nummer 9
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Henig, Arno: Die geschichtliche und kunstästhetische Bedeutung der Neudeutschen Stickerei
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Rapsilber, M.: Aus den Berliner Kunstsalons
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Nr. 9

Die Kunst-Halle.

(35

technischen Grenzen der Stickerei zu haben. Andererseits be-
zeugt dies die große Zahl „angefangener" Arbeiten, wie sie
in allen Schaufenstern ausliegen. Für die Stickerin erübrigt
cs dabei nur noch, die drei anderen viertel des Kissens oder
des Deckchens mechanisch nachzusticken. Ihre ,,Kunst" wird
lediglich auf die Sauberkeit und Akkuratesse der Arbeit reduzirt,
während sie sich um den Entwurf der Zeichnung so gut wie
gar nicht kümmert und es als das höchste Lob ansieht, wenn
ihre Arbeiten mit den brillanten und exakten Leistungen der
Maschine verglichen werden. Dies Lob wird man mehr als
einmal hören! Und doch ist nichts unberechtigter als dies,
nichts mehr ein Zeichen der Zeit, in der die Maschine eben
alles ersetzen und erreichen will. Auf dem Gebiete der Stickerei
hat sie in künstlerischer Hinsicht böse Verwirrungen angerichtet.
Glicht nur, daß sie die guten und kunstvollen alten Handsticke-
reien in ihrem Preis und in ihrem Ansehen herabsetzte, sondern
vor allem, daß sie die Veranlassung gab, jenen falschen Maß-
stab bei der Beurtheilung von Handstickereien anzulegen. Als
ob nicht gerade all die Zufälligkeiten und Unregelmäßigkeiten
der Hand stickerei den eigentlichen Werth derselben repräseutirten
und die ganze Individualität der Künstlerin im Gegensatz zu
der todten Gleichmäßigkeit der Maschine in der interessantesten
weise zum Ausdruck brächten! —
Daß auch die Schule das Dominiren der Maschine unter-
stützt, indem sie an das „Nähen auf der Nähmaschine" in den
höheren Klassen „das Sticken auf derselben" angliedert, ist
ein vorgehen, das zwar gut gemeint, aber doch nicht ohne Weiteres
zu billigen ist. Den Schülerinnen soll damit die Möglichkeit ge-
geben werden, sich im späteren Leben auch durch die Maschinen-
stickerei zu ernähren. Ls läuft die Einführung der die Nach-
bildung fördernden Stickmaschine freilich ganz konform mit den
Grundprinzipien unseres Schullehrplanes, denn das Kind soll
nachahmen, nachsprechen, nachsingen, nachbilden. Bezüglich
des Nachbildens ist es in neuester Zeit in gewisser Hinsicht
zwar besser geworden. An Stelle des mechanischen Kopirens
der „Vorlage" ist wenigstens beim Zeichenunterricht die An-
schauung, meistens sogar das Selbstschafsen getreten. Der
Handarbeitsunterricht in den Mädchenschulen aber ist noch
immer im Wesentlichen derselbe geblieben. Man begnügte sich
im großen Ganzen mit dem Nachsticken der sogenannten Muster-
tücher, auf denen freilich nur wenig verschiedene Techniken und
Sticharten zu sehen waren, und blieb immer bei dem alten
Irrthum, daß die verschiedenen Sticharten für die kindlichen
vände zu schwer seien und behalf sich immer wieder mit dem
allein selig machenden Kreuzstich und den wenigen üblichen
Varianten. Die Folge davon war, daß man, um wenigstens
etwas Abwechslung in die Stickerei zu bringen, den Schwer-
punkt auf das Muster selbst legte, welches künstlerisch entworfen
sein mußte. Zum Entwerfen zeigte sich aber nur ein sehr ge-
ringer Prozentsatz der Schülerinnen befähigt: inan war also
wieder zum öden Nachsticken verdammt.
Diesen oiroulns vitiosns löst die „Neud eutsche Stickerei"
mit den allereinfachsten Mitteln auf und es ist merkwürdig
genug, daß Jahrhunderte verstreichen konnten, ehe diese Er-
findung gemacht wurde. Ls ging eben auch hier, wie es schon
so oft gegangen ist: Das große Geheimniß lag in der Luft,
nur wagte keiner zuzugreifen. Baron Prof. vr. Hans
v. Weißenbach in Leipzig-R. machte sich bei seiner Erfindung
(im Gegensatz zur bisherigen Stickerei) die Vortheile in vollein
Maße zu Nutze, die das verwendete Material bietet, d. h. er-
zog in Betracht, daß man den Stickfaden nach allen Seiten
biegen, drehen, umwickeln, schlingen, knüpfen und

knoten kann. Die Wirkung, die er damit erzielte, war eine
großartige. Die Stickerei schien zu neuem Leben erwacht, die
Fülle der Kombinationen wuchs ins Unendliche und dabei
waren die einzelnen Muster, so „schwer" sie auch arischen,
mit Leichtigkeit nachzusticken. Selbst kleine, t t jährige Mädchen
bewältigten auf der Hannoverschen Ausstellung Hyos) mühelos
fast sämmtliche Muster.
So modern die Neudeutsche Stickerei ist, so wenig hat sie
gemein mit dem allein selig machenden Prinzip des modernen
Kunstgewerbes: mit den parallelen Wellenlinien, die der moderne
Künstler in alle Varianten wiederholt; das kann und will sie
auch nicht, denn die Stickerei ist — wie ich eben schon aus-
führte — an das Material gebunden und setzt sich aus den
Stichen zusammen, die in den einzelnen Karres, die die Web-
fäden bilden, eingefügt werden. Damit ist für die Stickerei
das System eckiger und gradliniger Muster gegeben, und
die Wellenlinie in die Stickerei einzuführen, würde eine Ver-
gewaltigung derselben bedeuten. Das hat der feinsinnige Er-
finder der Neudeutschen Stickerei wohl empsunden und deshalb
die Wellenlinie ängstlich vermieden — vielleicht ganz unbewußter-
maßen, wenigstens hat er sich mir gegenüber niemals über
diesen Punkt geäußert. Man kann also, von dieser Seite aus
betrachtet, die Neudeutsche Stickerei im strengen Sinne des
Wortes eigentlich nicht als modern bezeichnen und — wenn
unter dem Ausdruck altdeutsche Stickerei nicht etwas Anderes
verstanden würde — so möchte ich diesen Namen für passender-
erklären. Er würde das Wesen derselben zutreffender charak-
terisiren und ihre echt deutschen, ich möchte fast sagen mittel-
alterlichen Züge mehr betonen. Wenn man die kernigen, oft
vielleicht steifen Muster der Neudeutschen Stickerei betrachtet,
so wird man unwillkürlich an die alten Nürnberger Meister-
erinnert, die eben schufen, wie es ihnen ihr künstlerischer Sinn,
ihre Naivetät und ihr poetisches Gefühl eingaben. Ein System,
eine Schablone, kannten sie nicht, wie es doch die moderne
Wellenlinie zum Ausdruck bringt. Daß das ein unendlicher
vortheil ist gegenüber dein lähmenden Zwang der Wellenlinie
und den geistlosen Kreuz- uud Gobelinstichen der bisherigen
Stickerei, liegt klar auf der Hand.
Der eigentliche Werth der Neudeutschen Stickerei liegt aber
darin, daß sie der Stickerin die Möglichkeit bietet, von nun an
jhre Muster selbst zu entwerfen und damit ihre künstlerische
Individualität zur Geltung zu bringen: gewiß ein Umstand,
der die Neudeutsche Stickerei der allgemeinen Beachtung werth
macht und ihr die Zukunft sichert.


Mr Sen Zerliner Aunrtrrlonr.
a sich eine Sonderausstellung der Münchner-
Sezession im Nahmen der Großen Berliner
Kunstausstellung letzten Sommer nicht erwirken
ließ, hat man das Künstlerhaus zu dieser umfangreichen
Kunstschau dargeboten und nunmehr haben die Sezesstons-
herren aus München ihre gemalten und modellirten
Herrlichkeiten den Berlinern unter die Augen gestellt.
Die drei verfügbaren Säle sind bis auf das letzte
Fleckchen von den etwa hundert Malereien und graphi-
schen Arbeiten angefüllt und dazu gesellen sich noch in
 
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