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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

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Heft 9 (September 1932)
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Zum Nachdenken / Umschau / Buchbesprechungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0169
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ZUiVI NACHDENKEN
porm" _ der Lebensgehalt künstlerischer Gebilde
Oie Ähnlichkeiten der Bilder in der rhythmischen
lebenskette sind nicht zu zerlegen und können nur
jm groben beschrieben werden. Jedes Folgeglied
steht jedem vorhergehenden nahe und ist gleichwohl
von jedem auf eine jedesmal wieder andere Weise
verschieden. Verglichen mit allen schon dagewesenen
Formen hat es den Charakter jener nie zu berechnen-
den Neuheit, die man „Eigenart" oder noch besser
Ursprünglichkeit" nennt. Das Leben steht immer im
schöpferischen Anbeginn, trinkt stets aus einer und
der ersten Quelle und ist heute so urgewachsen wie
0s vor beliebigen Jahrzehnten war. — Demgemäß hat
das Gepräge der Eigenart auch jede Bewegung des
Menschen, soweit sie vom Leben getragen ist, inson-
derheit also die Schreibbewegung und deren blei-
bend gegenständlicher Niederschlag, die handschrift-
lich erzeugte Schriftgestalt. Wie sich innerhalb des
Schriftfeldes dqs Leben im Rhythmus der Linienver-
leilung zeigte, so ragt an Lebensfülle die eine
Handschrift der anderen vor durch Überlegenheit
an Eigenart oder Ursprünglichkeit. Angesichts dessen,
daß man den Lebensgehalt künstlerischer Gebilde
die „Form" zu nennen übereingekommen ist, können
wir endlich sagen: das Leben der Handschrift liege
in der Stärke der Form.
Aus „Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft'1 von Dr. Ludw, Klages.
1923. (Verlag Joli. Ambrosius Barth, Leipzig).
Die Phantasie
selbst rein von Absicht, im tiefsten Sinne zwecklos, ist
die Erlöserin aus der Starrheit unseres allzu absichtsvol-
len Lebens und Strebens. Nur in jener eigentümlichen
Kraft, teilzuhaben am unendlichen Ablauf alles Lebens,
dessen ewig wechselnde Bilder Phantasie allein zu
beschwören und zu bannen vermag; nur in jener Fähig-
keit, in den Dingen zu sein und doch zugleich Uber
ihnen: nur in der Phantasie sind wir frei.
Alles kindliche Tun quillt aus der Phantasie.
Aus „Phantasie und Erziehung" von Karl Bröger.
(Bei R. Oldenburg, Leipzig 1923).
Warum ist das Straßburger Münster ein einheitlicher
Bau?
Die Bauzeit des Straßburger Münsters reicht vom
späten 12. bis ins hohe 15. Jahrhundert. Die Bischöfe
haben es begonnen, die Bürger vollendet, und jedes
von den vielen Geschlechtern, die an ihm schufen, hat
sein Besonderes nur ihm Eigenes an diesem Bau ver-
ewigt. Mit ihrem Wechsel hat er den Wechsel der
Stile erlebt, ist ein Spiegel des Formenwandels und
Goisteswandels von 4 Jahrhunderten geworden. Und
dennoch — dies ist das Wunderbare, uns Heutigen
kaum faßliche — ist er eine Einheit, ist nicht eine
Summe zusammenaddierter Stilelemente geblieben,
sondern ein Ganzes von organischem Charakter ge-
worden. Er dankt diese Einheit der überpersönlichen
und überzeitlichen Machl, die er darstellt und sinn-
lällig macht, der Kirche. Der Doppelsinn dieses Wor-
tes „Kirche", das einmal das über die Zeiten dauernde
geistige Gebäude, dann aber auch das durch die Zeit
seiner Entstehung bestimmte und in sich gebundene
steinerne meint, deutet den Grund und die Möglich-
keit einer solchen Einheit an. Denn, indem die über-
icitliche und immaterielle Kirche sich in der zeit-
lichen und steinernen darstellt, läßt sie diese an der
Uberzeitlichkeit ihrer Inhalte teilhaben.
Eine Versinnlichung ihres wesentlichen Inhalts ist
Ucr Grundplun des Kirchenbaues, der kraft seiner
den Wechsel der Zeiten überdauernder Geltung die
Verschiedenheit der an seiner Verwirklichung schaf-
lenden Geschlechter sich untertan zu machen und zur
Einheit zu binden vermag.
Dieser Plan ist eine Darstellung der christlichen
leine und des christlichen Lebens. Er schreibt einen
Weg von Westen nach Osten, in der Richtung zum

Aufgang des Lichtes und zur Stätte der Eilösung vor.
Der Westbau ist in die unheilige Welt gerichtet, wirkt
durch die Fassade, Türme und Glockenklang ladend
und fordernd in sie hinein und nimmt in seiner Vor-
halle den Eintretenden auf.
Das Langhaus, ein vom Rhythmus der Arkaden vor-
gezeichneter Weg, führt gen Osten. Seinem Ende
lagert sich das Querhaus vor, den Weg abschließend,
die Bewegung des Langhauses durchkreuzend und
aufhebend. An die Ostwand des Querhauses aber
schließt sich der Chor, der Sitz der Geistlichkeit, die
Stelle des Hochaltars, zu der kein Laie Zutritt hat, der
Raum, in dem für den Gläubigen die Versinnlichung
des Übersinnlichen geschieht.
Dieser den meisten christlichen Kirchen eigene
Grundplan ist in Straßburg besonders rein verwirk-
licht, weil er sich hier nicht mit der anderen Möglich-
keit des Kultbaues, dem Zentralbau durchdrungen hat.
Dieser stellt das Heiligste, den Altar, nicht ans Ende,
sondern in die Mitte des Baues, bildet nicht einen
Weg, sondern einen bewegungslos in sich ruhenden,
auf allen Seiten gleichförmig in sich abgeschlossenen
Raum. Diese beiden Grundmöglichkeiten, die eindeu-
tig gerichtete Basilika und den richtungslosen Zentral-
bau, verschmelzen zahlreiche Kirchen, indem sie, wie
St. Maria im Kapitol zu Köln oder die Elisabethkirche
zu Marburg drei Chöre kleeblattförmig verbinden und
nur an die Stelle des vierten ein Langhaus nach
Westen richten, oder indem sie, wie die Dome in
Mainz1, |Worms, Bamberg, Naumburg, den Oslchor
einen Westchor gegenüberstellen und den Eingang
an eine Längsseite verlegen. Dadurch pendeln die
Bewegungsantriebe aus, sie heben sich gegenseitig
auf, man schreitet nicht durch das Langhaus, sondern
steht in ihm.
Das Straßburger Münster dagegen hält sich von
allen Vermischungen mit dem Zentralbau frei, ist
durchaus Weg, leitet den Eintretenden zum Fortschrei-
ten vom Eingang im Westen zum Altar im Osten, vom
Profanen zum Heiligen. Diese Anlage wurde nicht erst
mit dem heutigen Münster geschaffen, sondern von
dem romanischen Bau übernommen, der vor ihm be-
stand, und der sie zur selben Zeit wie der gleich-
artige Dom zu Speyer geprägt hatte. In diesem Be-
wahren des alten Planes nicht nur, sondern auch der
alten Fundamente liegt ein zweiter Grund für die Ein-
seitlichkeit des Baues. Ein Dritter endlich ist die Tat-
sache, daß auch die Wandlung der Formen während
der langen Bauzeit sinnvoll und durchaus konsequent
ist. Sie schreitet von der Geschlossenheit schwerer
Massen zu immer weiter getriebener Auflösung und
Leichtigkeit fort, so daß die folgerichtige Entwicklung
und ein organisches Wachstum erscheint.
Aus „Das Straßburger Münster und seine Bildwerke", lierausgegeben
durdi Richard Hamann, beschrieben von Hans Weigerl. (Deutscher Kunst-
verlag, Berlin) 1928. Wir haben das Werk in Kunsl und Jugend nach
seinem Erscheinen gewürdigt und Proben des Bilderstofles gezeigt.
Es sollte in keiner höheren Schule fehlen. D, Scnriflleit.
Humanistische Bildung.
Schon fast seit einem Jahrhundert wirken Humaniora
nicht mehr auf das Gemüt dessen, der sie treibt, und
es ist ein rechtes Glück, daß die Natur dazwischen
getreten ist, das Interesse an sich gezogen und uns
von ihrer Seite den Weg zur Humanität eröffnet hat.
Daß die Humaniora nicht die Sitten bildenl Es ist
keineswegs nötig, daß alle Menschen Humaniora trei-
ben. Die Kenntnisse, historisch, antiquarisch, belle-
tristisch und artistisch, die aus dem Altertum kommen
und dazu gehören, sind schon so divulgiert, daß sie
nicht unmittelbar an den Alten abstrahiert zu werden
brauchen; es müßte denn einer sein Leben hinein-
stecken wollen — dann aber ist diese Kultur doch nur
eine einseitige, die vor jeder anderen einseitigen
nichts voraus hat, ja noch obenein nachsteht, indem
sie nicht produktiv werden und sein kann."
Goethe zu dem klassischen Philologen Riemer am 95. Nov. 1808.
(Nach „Goethes Gedanken" von W. Bode, Band I, Seite 90, Berlin 1907.j

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