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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

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Heft 9 (September 1932)
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Kolb, Gustav: Nocheinmal: Differenzieren
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https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0168

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IMÖCHEINIVIÄL: DIFFERENZIEREN
(Zu meinem Aufsatz in Nr. 7 und zur Anmerkung in Nr. 8 Seite 137.)

Das Streben, die deutsche Sprache von überflüs-
sigen Fremdv/örtern zu reinigen, ist aller Achtung
und Unterstützung wert. Es gibt aber Fremdwörter, be-
sonders solche, die wissenschaftliche Sachverhalte
bezeichnen, deren Ersetzung durch deutsche Aus-
drücke aus Gründen der Deutlichkeit nicht gut möglich
ist. Dazu rechnen wir trotz allem, was dagegen vor-
gebracht wurde, das Wörtchen „Differenzieren".
Seine Bedeutung in unserem Fall ist durch allge-
nvlit'j Ill’UM'j hiimu' heil' I I- l.ii iiihI wti liMinen nhlii
llinlcn, <lni) LiüIim uebiciui.li In unseiei Welse von dem
allgemeinen Sinn abgewichen werde. „Differenzie-
rung" ist nach Aussage eines philosophischen Wörter-
buches „die Ausbildung von Verschiedenheiten aus
einheitlicher Grundlage, vom gleichen Ausgang aus".
Das Wort trifft also genau den Sachverhalt, den wir
meinen. Fferrmann.
+ t +
Wenn ich dazu nochmals das Wort nehme, so leitet
mich nicht Rechthaberei oder „Griffelspitzerei" oder
gar blinde Sprachreinigungswut (zu deutsch Purismus),
sondern das redliche Bestreben, unserer Mutter-
sprache, dem köstlichten Kleinod, das wir besitzen, in
meinem bescheidenen Teil zur Ehre zu verhelfen. Die
alten Leser von „Kunst und Jugend" wissen, daß ich
nicht erst seit heute, sondern schon seit Jahrzehnten
in diesem Sinne tätig bin. Wer wie ich, sich dauernd
bemüht, in seiner Rede und Schreibe auf die meist so
hochtrabenden und vieldeutigen Fremdwörter zu ver-
zichten weiß: es gehört Selbstzucht dazu. Dieses Be-
mühen, meine ich, sollte alle deutschen Kunsterzieher
beseelen. Es ist Dienst an unserem Volk, und nicht der
geringste. Der „fremdwörtelnde Sprachdünkel" unse-
rer Wissenschaftler hat eine Kluft aufgerissen zwischen
den sog. „Gebildeten" und den sog. „Ungebildeten".
Auch diese Kluft muß verschwinden, wenn wir wieder
zur Volksgemeinschaft kommen wollen.
Freilich erfahre auch ich es täglich, daß wir nicht
alle Fremdwörter entbehren können. Z. B. für die Worte
Rhythmus, Phantasie habe ich, trotz Kopfzerbrechen,
noch keine kurzen, eindeutigen, den Sachverhalt er-
schöpfenden deutschen Benennungen gefunden. Leider;
denn auch hier ist es so, daß diese Fremdwörter An-
laß geben, so Verschiedenes darunter zu meinen, was
bei Erörterungen notwendig zu dem bekannten un-
fruchtbaren An-einander-Vorbeireden führen muß und
schon viel Zeit, Kraft, Verdruß und Druckerschwärze
erforderte und immer wieder erfordern wird.
Und so verhält es sich auch mit den anspruchsvollen
Kunstwörtern differenzieren, Differenzierung, denen
wir nochmals auf den Leib rücken wollen. Ich nenne
sie Kunstwörter deshalb, weil sie eines Tages künst-
lich mit einem Begriffsinhalt gelullt wurden, der ihnen
von Haus aus ihrem Wortsinn nach gar nicht inne-
wohnt.
Der englische Philosoph Spencer ist m. W. mit seiner
„Theorie des Weltprozesses" der Urheber dieser
neuen Begriffe.
Ich weiß es wohl, wenn Amtsgenosse Herrmann auf
seinen Bahnen wandelt, so leitet ihn nur das Bestre-
ben nach dem höchsten Grade wissenschaftlicher Ge-
nauigkeit. Aber ist es ihm mit seinen Erläuterungen
wirklich gelungen, die Eindeutigkeit und Unentbehr-
lichkeit dieser Fremdwörter nachzuweisen? Bemerkt er
nicht, in welchem Widerspruch zu sich selbst er ge-
raten ist, wenn er in seiner heutigen Erklärung vorn
behauptet, das Ersetzen des Wörtchens differenzieren
durch deutsche Ausdrücke sei aus Gründen der Deut-
lichkeit nicht möglich und nachher feststellt, daß die
Worte „die Ausbildung von Verschiedenheiten aus ein-

heitlicher Grundlage vom gleichen Ausgang aus" g e -
nau den wissenschaftlichen Sachverhalt bezeichnen,
den „wir meinen".? Diese Feststellung bringt ihn aber
auch in Widerspruch zu seiner Erklärung in Heft 8. Dort
erfahren wir nämlich, daß er die deutschen Worte „ent-
wickelt", „entfaltet" nicht gebrauche, weil sie die
Vermutung zuließen, als ob es sich „bei den späteren
Stufen um etwas grundsätzlich Besseres, um das er-
reichte Ziel der früheren handle". Ist etwa in der g e-
no nun duulsihun Fassung seines Wöilorbuches die-
sei Sachverhalt mit inbegiillen?
Wenn ich mein philosophisches Wörterbuch (P.
Thormeyer) befrage, so erfahre ich: „Differenzierung
ist die Gliederung eines Gleichartigen in verschieden-
artige Teile". Herr Herrmann wird zugeben: diese
Übersetzung deckt sich nicht völlig mit der seines
Wörterbuches. Damit allein ist schon die Unklarheit,
Mehrdeutigkeit des Fremdwortes gekennzeichnet. Ich
will nun zugeben, daß Herrmann das bessere Wörter-
buch hat. Aber auch bei der Übersetzung seines Wör-
terbuches vermisse ich ein Wesentliches. „Ausbildung
von Verschiedenheiten aus einheitlicher Grundlage"
kann z. B. jede beliebige geometrische Verwandlungs-
aufgabe sein, etwa die Verwandlung eines Vierecks
in verschiedenartige, zusammen inhallsgleiche Flächen,
also ein rein mathematischer messender Vorgang,
während es sich bei dem von Herrmann gemeinten
Sachverhalt doch um den Lebens Vorgang des in-
neren, seelisch geistigen Wachstums handelt, den wir
am treffendsten mit den schlichten allgemeinverstand-
lichen Wörtchen „entwickeln” oder „entfalten" be-
zeichnen. Darauf hat Herrmann selbst schon hingewie-
sen, aber nicht die Folgerungen gezogen.
In Herrmanns Aufsatz (Heft 7) kommen die Begriffe
„differenzieren", Differenzierung" in folgenden, hier
auszugsweise und sinngemäß wiedergegebenen Sal-
zen vor:
Man könnte annehmen, das bildnerische Vermögen
bleibe ganz und gar auf der Stufe der Differenzie-
rung stehen, bis zu der es interessierte Pflege und
Ausbildung genossen hat. Das ist aber nicht der
Fall . . ., die bildnerische Fähigkeit wird sich unter
der Oberfläche vom weiterentwickeln ... Die Diffe
renzierung ist dann eben „latent" vorhanden, . . ,
die latente Differenzierung kann sich bei einem
äußeren Anstoß durch ein sprunghaftes Nachrücken
offenbaren. Der Mensch wächst eben, ob er will
oder nicht, in immer höher differenzierte Stufen
hinein.
In meine Sprache übertragen, würde das etwa so
lauten:
Man könnte annehmen, das bildnerische Vermögen
bleibe ganz und gar auf der Stufe der Entwicklung
stehen, bis zu der es Pflege und Ausbildung genos-
sen hat. Das ist aber nicht der Fall. Die bildnerische
Fähigkeit wird sich unter der Oberfläche weiterent-
wickeln. Diese „verborgene" Entwicklung kann sich
bei einem äußeren Anstoß durch ein sprunghaftes
Nachrücken offenbaren. Der Mensch wächst eben,
ob er will oder nicht, in immer „höher" entwickel-
tere Stufen hinein, die mannigfaltigere Formen zei-
gen. Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, könnte
man noch hinzusetzen: Man darf aber nicht über-
sehen, daß jede, auch die frühere Stufe, ihren Wert
in sich selbst hat, also nicht nur Vorbereitung auf
die nächste Stufe, sondern auch schon in sich Er-
füllung ist.
Ich frage: Fehlt es dieser Fassung an Deutlichkeit
und Eindeutigkeit? Jedenfalls ist sie auch für den
ohne weiteres verständlich, dem kein philosophisches
Wörterbuch zur Verfügung steht. G. Kolb.

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