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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

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Heft 8 (August 1932)
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Merwart, Fritz: Zierer als Führer
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Parnitzke, Erich: Zum Zeichensaal-Inventar
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https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0144

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auch im Bildungsstreben des Menschen weiden da-
mit wieder in ihr Recht eingesetzt. Das ist noch nicht
Einzwängung und Gängelung der kindlichen Kräfte,
aber eine deutliche Abkehr vom übertriebenen Indi-
vidualismus. Wenn wir diese Zeichen der Zeit auch
in der Kunsterziehung beachten, so folgen wir damit
nicht einer Mode, sondern besinnen uns nur von Neuem
auf die ewigen Grundlagen des Lebens, auf die ab-
soluten Werte, in denen sich Wahrheit und Schönheit
vereinen. Wir sind in der Kunsterziehung in der glück-
lichen Lage, ewige Werte am ehesten vermitteln zu
können und damit von Neuem der Gesamterziehung
zielstrebig voranzugehen.
Damit will ich für heute meinen Versuch, Zierers
Lehre den Lesern näher zu bringen, beschließen. Ich
hoffe, nicht allzusehr mißverstanden zu sein. Auch
möchte ich betonen, daß wir mit der Auswertung der
„Tiefenanschauung" für die pädagogische Arbeit erst
am Anfang stehen. Unsere Arbeitsgemeinschaft wird

im kommenden Winter ihre Arbeit wieder aulnehmen
und hoffentlich neue Mitarbeiter finden. Ausgeschlos-
sen ist dabei allerdings ein Debattieren um die An-
schauung selbst, die ja Voraussetzung für die gemein-
schaftlichen Bemühungen ist. Erwähnen darf ich ferner
noch, daß in der „Tiefenanschauung" außer den abso-
luten Werten auch noch andre wichtige Dinge ihre
Berücksichtigung und Einordnung erfahren. Z. B. spielt
die Persönlichkeitsfrage, die Problemstellung eine Rolle
bei der Beurteilung der Begabung des Künstlers. Aber
immer wird diesen Dingen der gebührende Platz in
einer der verschiedenen „Erkenntnisschichten" ange-
wiesen, durch die man bei der „Tiefenanschauung"
erst hindurchdringt bis zur Resonanz der absoluten
Gefühle, die nicht eigentlich durch das Kunstwerk in
uns erzeugt, sondern durch dieses nur mit jeweils ver-
schiedener Stärke bewußt gemacht werden, weil sie
in unserer Seele bereits als Schöpfungszustände ent-
halten sind. —

E, PARNITZKE-KIEL: ZUM Z EIC H E IM SÄ Ä L-IN V E NTA R

Anlaß zu diesen Randbemerkungen war die im vorigen Jahr auf-
lauchende Frage, ob die amilich verfügten „Lehrmittelverzeichnisse”
von 1903 00 enlfügf zu werden hätten.
Diese Verzeichnisse enthielten den früheren Ausrüstungsbestand an
„Modellen”, der manchen Zeichensaal als „Sammelbestellung” ancjc-
füllt hat: die bekannten Naturpräparate: Schmetterlinge, Käfer, Fische,
Vögel, Tierschädel; die sogenannten „einfachen Gebrauchsgegen-
stände" einer stereometrischen Systematik wegen aufgereiht — man
denke an die „zylindrischen Spanschachlein”,-köibe usw.; die kunst-
gewerblichen Stil- und Geschmacksmuster an Fliesen, bedruckten Stof-
fen, Metall-, Holz-, Glasgefäßen und Flechtkörben, (in „japanischer"
Art); ferner „alle” Bücher, Nicht zuleßf die historischen Requisiten an
Rillerhelmen, ehernen Handschuhen und die prähistorischen Töpfe,
Urnen, Schalen. Beigegeben waren Abbildungen von Schülerarbeiten,
wie etwa das Ellipsendrehen, Glanzlichtermalen, die Pflanzen- und
Innenraumsfudian „schön” aufgemacht werden könnten. Es konnte pas-
sieren, daß ein Schulmann aus Chile im Jahre 1928 diese amtlichen
preußischen Unterlagen samt den reproduzierten Leitbildern als „noch
gellend” mitnahm. Wir wissen, wie es um die Geltung längst bestellt
war. Eigenartig, zu sehen, wie außerordentlich wenig — und auch dann
noch für andre Zwecke als zum „Abzeichnen" — von jenem Reform-
programm die Zeit überlebt hot. Die Frage, ob eine Erneuerung sol-
cher Verzeichnisse noftäle, konnte ich von mir aus nur verneinen.
Vielleicht mögen aber die Begründungen weiteres Interesse finden,
weshalb sie in aller Kürze milgeteilt seien.
1, Jede Verordnung an „Objekten" für das Nalur-
studium würde eine Einengung bedeuten. Wahl und
Auswertung können nur persönliche Angelegenheit
sein. Ein Bedarf, Naturpräparate vorrätig zu haben,
liegt nicht vor. Lebende Pflanzen, Blumen, Zweige,
Früchte, Gemüse können nach Bedarf erbracht wer-
den. Lebende Tiere, vom Aquarium bis zum Hühnerhof,
im Pferdestall usw. sind erreichbar; immer der Mensch
— als Mitschüler — oder auch in anderm Alter und
Tun. Wo sachlich biologische Interessen danach drän-
gen, findet sich in der naturkundlichen Sammlung je-
der Anstalt „echtes" Material genug.
2. Daß der werkstattmäßig anregende Zeichensaal
auch formvolle Dinge ins Auge und in die Hand spiele,
ist wohl eine Notwendigkeit, die aber weder das
Zuviel gestriger Naturalien- und Raritäten-Kabinette,
noch ein Zuviel an Museumshaftigkeit überhaupt ver-
trägt. Was anregend ist, wird mehr beim Wechsel
liegen, hinter dem eine griffbereite Sammlung „ech-
ter" Kunstformen zu stehen hätte in der Form leben-
der guter Töpferei und gegenständlicher „Kunstfor-
men" wie sie in Ergänzung des „Bild"-Materials (wo-
mit irrigerweise oft nur graphische und Gemälde-

Drucke angesprochen werden) ohne große Ausgaben
erreichbar sind. Auch hier kann keine Norm aufgestellt
werden. Person des Lehrers, Landschaft und Ort der
Schule, Mitarbeit der Eltern und Schüler u.a.m. bedin-
gen eine nicht festlegbare Mannigfaltigkeit. Kann in
einem Falle aus einer werkstattsachlichen Nüchternheit
die Arbeit „blühen", so kann sie in zu wohnraumhal-
tem bürgerlichen oder „atelier"-mäßigen Komfort in
verspieltem Genre enden.
3. Nachzuholen ist zum „Gegenstandsbedaif", daß
die lebensnahen Dinge und Verrichtungen in Haus, Hol,
Garten, Feld und Straße soviel Möglichkeiten und An-
lässe der Gestaltung bieten, daß eine fruchtbare Un-
terrichtsarbeit ganz ohne eigentliches „Inventar" im
Zeichensaal denkbar ist (zumal, wenn zur Aufnahme
und Nachgestaltung quellenmäßiger „Kunstformen" ein
örtliches Museum zur Verfügung bleibt).
An Mädchenschulen kann z. B. die Schulküche mit
ihrem Gerät und Betrieb, desgl. der Nadelarbeitsraum
genutzt werden. Für Dungens sind Werkställen, Bau-
plätze, erreichbare Verkehrsmittel (Fahrräder, Autos,
Traktoren usw.) lebendiges Gerät, das nicht „ge-
stellt" zu werden braucht.
Wenn die früheren Verzeichnisse geschmacklicli
wirksame Dinge meinten und den „schönen" Gegen-
stand über die bildnerische Verarbeitung stellten,
dann könnte man heute Im Gegensatz dazu sagen,
daß einem Bildunterricht, der die Leistung der Verar-
beitung in den Mittelpunkt stellt, jeder „Gegenstand"
recht sein muß. Ein an sich „geschmackloser" Krug (In-
dustrieprodukt mit Aziehbilddekor) kann trotzdem „gut
gemalt" werden. Eine „Gründerzeitvilla" mit Anker-
steinbaukastengesicht kann anregender sein als ein
kubischer Sachbau. Und es kann mehr Form entstehen
aus dem Anblick wie sich jemand die Nägel frisiert,
als irgend einer „ideal-schönen" Handlung gegen-
über.
Wem einmal aufgegangen ist, daß man das Leben
an allen Stellen in den Zeichenunterricht hereinlassen
kann, der wird keines Katalogs bedürfen. Wem es um
Kampf gegen den Kitsch zu tun ist, der wird ihn in
der unmittelbaren Umgebung aufnehmen: da, wo er
zuhause ist in seinen Greueln. Er braucht erst recht
keine „Lehrmittelfirmen" darum zu bemühen..

„Ich habe niemals die Natur poetischer Zwecke
wogen betrachtet. Aber weil mein früheres Land-
schaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen
mich zu einem beständigen genauen Ansehen der
natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur

bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswen-
dig gelernt, dergestalt, daß wenn ich als Poet etwas
brauchte, es mir zu Gebot steht und ich nicht leicht
gegen die Wahrheit fehle."
Goelhe zu Eckermann, 18. II. 18?/.

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