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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 12.1932

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Heft 5 (Mai 1932)
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Stiehler, Georg: Abiturientennot, höhere Schule; Abbau des Zeichen-, Kunst- und Werkunterrichts
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https://doi.org/10.11588/diglit.28170#0093

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6 E 0 R 6 STIEHLER-LEIPZIG:
Ablturientennot, höhere Schule;
Abbau des Zeichen-, Kunst- und Werkunterrichts

Die ]ugend in Not! Ein Nichts nach dem Studium,
Hoffnungslosigkeit bei Eltern und Jugend.
Nicht nur „Volk ohne Raum", auch im engeren Hei-
niatraum keine Sicht auf Beruf, auf Lebensarbeit. —
Entschlossen sucht die Jugend den Weg der Selbst-
hilfe, aber sie findet die Tür zum Leben verschlossen.
Die breite Öffentlichkeit versucht Mithilfe, aber
die Schrumpfung der Wirtschaft, Notverordnungen und
kultureller Abbau in großem Ausmaß verurteilen den
Willen zum Helfen zur Aussichtslosigkeit; denn die
Vorschläge des Augenblicks vermindern nicht die Zahl
der Beruf-Suchenden, vermehren nicht die Zahl der
Arbeitsstellen; ja, ergreifen vielfach nicht die U r-
sachen der Not!
Die „Landesstellen für Berufshilfe" organisieren sich
auf umfassender Grundlage, vor allem sucht man bei
den Abiturienten den Blick von der Hochschule abzu-
wenden, hinzuwenden nach dem praktischen Leben,
nach Industrie, Handel, Gewerbe, landwirtschaftlicher
Siedlung u. a. m. Aber alle diese wohlgemeinten Vor-
schläge treffen auf die trostlose wirtschaftliche Situa-
tion; es begegnen sich Abiturientennot und herr-
schende Arbeitslosigkeit bei Millionen deutscher
Bürger.
teilweise entbehren die Vorschläge
des Augenblickes auch der inneren Be-
rechtigung.
Die Jugend der höheren Schule ist programmäßig
lür das Studium an der Hochschule vorbereitet. Dieses
Programm ist gerade in jüngster Zeit vom „Deutschen
Philologenverband" in der Hamburger Tagung nach-
drücklich unterstrichen und durch die Presse in brei-
tester Öffentlichkeit vertreten worden. Deutsche Unter-
richtsministerien haben sich durch entsprechende Maß-
nahmen einer Umformung der „Reform" (vor allem in
Preußen) diese Auffassung des Philologen’verbander
zu eigen gemacht. In Hamburg „besann sich die höhere
Schule auf sich selbst", auf die einseitig betonte wis-
senschaftliche Ausbildung der Jugend.
Diese Einstellung ist vom Standpunkt einer Standes-
vertretung und der traditionellen Wertung in nor-
malen Zeiten aus verständlich, ist aber in der Gegen-
wart nicht nur unzeitgemäß, sondern geradezu schäd-
lich, hemmend für die nach Luft ringenden Abiturien-
ten der höheren Schule.
Diese „Besinnung auf sich selbst" führte dazu, alles
aus der höheren Schule auszuscheiden oder radikal
zu beschneiden, was nicht einer vertieften, intellek-
tuellen Bildung dient. Auch erstrebt man mit Recht
eine Vereinheitlichung des Schulwesens (humanisti-
scher und realistischer Grundzug); es ist das eine or-
ganisatorische und finanzielle Notwendigkeit. Dieses
Stieben ist aber in das Gegenteil vetkehrt worden
durch Schaffung neuer Schultypen (Oberschule, Auf-
bauschule) nach Beseitigung der Lehrerseminare.
Man dringt auf Auslese, aber zu gleicher Zeit ver-
mehrte man unbekümmert die Klassenzüge, übersetzte
stark das Mädchenschulwesen (von 19,9"« i. J. 1913 auf
il,l*i heute, z. B. in Leipzig). Das Berechtigungswesen
wird vielfach zu einer schablonenhaften Abstempe
lung; bei der Elternschaft und in der breiten Öffent-
lichkeit gilt das Matur schlechthin als die „Reife" für
alles; als eine gesellschaftliche Bewertung, die ein
ganzes Leben anhält, Abstand schafft zu den anderen,
uen Nichtmaturen.
In keinem anderen Kulturland ist dieser Zustand so
jusgobildet, wie im „schulseligen" Deutschland, das
rbc'i nicht zu einer Volkseinheit und zu einer Geltung
m der Welt kommen kann.

Das Anschwellen der höheren Schule, die Minder-
bewertung der Schulen für das praktische Leben ha-
ben die ungeheure Not der Abiturienten mitbewirkt.
Nach der „Tat" haben wir im Jahre 1934 140 000 ar-
beitslpse „beamtete" Akademiker bei einem Bestand
von 3*40 000 beschäftigten Akademikern.
Abbau der höheren Schulen wird als Heilmittel emp-
fohlen, strengste Auslese, numerus clausus für alle
akademischen Berufe, scharfes Zufassen im Studium
(Vorprüfungen, Ausscheidungsprüfungen) und beim
Staatsexamen.
Zusammenlegen höherer Schulen ah Orten, keine
parallelen Klassenzüge, keine Schulneugründungen!
Und die Wirkung? Neue Arbeitslosigkeit bei Lehrern
der höheren Schulen (Not der Studien-Assessoren),
Zurückhalten der Jugend vom freien Wettbewerb in-
nerhalb der akademischen Berufe.
Der freie Wettbewerb, der Sinn alles Slrebens im
Leben, darf nicht ausgeschaltet werden, sonst schafft
der Staat ein engbegrenztes, numeriertes Heer von
Staatspensionären schon beim Beginn des Studiums,
ohne Gewähr dafür, die wirklich „Wertvollen" aus-
gewählt zu haben, die im Leben dann das halten, was
man durch Auswahl glaubt für ein ganzes Leben ent-
scheidend zu treffen. Das ist eben nicht der Weg des
„freien Wettbewerbes" und nicht die „offene Tür" für
eine Bewährung im späteren Leben und einer selbst-
eigenen Entscheidung der maturen Ju-
gend, entweder für die Hochschule oder
für die Schule des praktischen Lebens.
Ist die höhere Schule, wie sie jetzt ist, aber geeig-
net, dieser Doppelaufgabe gerecht zu werden? Sie
war auf dem Wege dazu (preuß. Reform, Vorschläge
von Schulreformern, bewegliche „Einheitsschule" inner-
halb der höheren Schulen im Sinne von Seb. Schwarz,
Lübeck). Aber „Hamburg" hat eingerissen, die Not-
verordnungen haben eingerissen; die wissenschaft-
liche Notlage ruft nach einer erneuten Besinnung.
Das ist eiserne Notwendigkeit für die nächsten Jahr-
zehnte deutscher Not. Wird die höhere Schule aus
eigener Kraft diese Lage eikennen und nicht nur äußer-
lich, rein zahlenmäßig ändern wollen, sondern dern
Sinne des Lebens in dieser Notzeit nachgehen und
den Menschen in den Vordergrund stellen. Den
jungen Menschen, der vorbereitet sein muß, sich zu
entscheiden für die Hochschule oder
für das praktische Leben. Das ist die ent-
scheidende Situation der höheren
Schule für die nächsten Jahrzehnte! —
Das bedeutet nicht, daß die höhere Schule die Ar-
beitsgebiete des Lebens, wie bei den höheren Fach-
schulen, aufnehmen soll. Sowohl dar Hochschulstu-
dium wie die Schule des Lebens bedürfen des ganzen
Menschen; sie verlangen eine Entwicklung der Kräfte
in Einheit von Seele — Geist — Leib. Die Gebiete
des Wissens stehen dem Umfang nach immer an vor-
derer Stelle, aber die Gebiete der bildnerischen Ge-
staltung und Darstellung, der Musik und der Leibes-
übungen müssen bei dieser Erziehung g I e i c h w e r-
t i g daneben stehen. Geschieht das nicht, dann ent-
steht eben jene schädliche, einseitige Erziehung der
deutschen Jugend auf den höheren Schulen, die ge-
genwärtig verhängnisvoll ist bei einer Entscheidung
für den künftigen Beruf. Der junge Mensch muß auf
der höheren Schule „sich selbst finden können", das
ist die Besinnung der höh. Schule auf sich selbst. Die
aktive und einfühlende Art seelischer Entwicklung
findet das junge Geschlecht in den künstlerischen
Bildungsgebieten; praktische Intelligenz, Anstelligkeit,

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